: Nach ihm die Sintflut
Alfred C. Kinsey hat die US-Amerikaner über Liebe, Sex und Zärtlichkeit aufgeklärt. Einen Kinofilm über sein Leben nutzen nun die Konservativen, um mit dem ganzen Schweinkram aufzuräumen
AUS WASHINGTON MICHAEL STRECK
Aids, Pornografie, Promiskuität, Abtreibung, hohe Scheidungsraten, Schwangerschaften unter Minderjährigen – die christliche Rechte in den USA hat längst das Übel allen sexuellen Frevels ausgemacht: Alfred C. Kinsey, den Verhaltensforscher, der in den 50er- und 60er-Jahren mit Büchern wie „Sexual Behavior in the Human Male“ und „Sexual Behavior in the Human Female“ die Sicht der Amerikaner auf ihr Sexualverhalten revolutionierte.
Vergangenes Wochenende lief in den US-Kinos das Filmporträt „Kinsey“ an, und seither ziehen konservative Internetseiten, Talkshow-Radios und Kommentatoren gegen den Sexologen zu Felde. „Kinsey ist es zu verdanken, dass unsere Generation die katastrophalen Konsequenzen von Geschlechtskrankheiten und Pornoindustrie ausbügeln muss“, wettert Brandi Swindell, Chef der rechten Studentenverbindung Generation Life.
Deren Aktivisten wollen in und vor den Kinos Filmbesucher dazu bringen, sich wenigstens vorab eine bibelfeste Meinung über Kinsey zu bilden. Andere Organisationen werfen dem Film vor, das Christentum zu verspotten und unmoralisches Handeln zu rechtfertigen.
„Kinsey“ schickt sich also an, nach Michael Moores „Fahrenheit 9/11“ der kontroverseste amerikanische Film in diesem Jahr zu werden. Die meisten christlichen Gruppen und Kirchen scheuen sich jedoch, zu einem generellen Boykott aufzurufen. Sie fürchten, der Popularität weiter Vorschub zu leisten und noch mehr Sünder in die Kinos zu treiben. Überdies sehen sich die Moralapostel in einer pikanten Situation: Filmverleih ist ausgerechnet Fox Searchlight, Tochter des konservativen Medienimperiums von Rupert Murdoch. Dessen TV-Kanal Fox ist in den USA Haus-und-Hof-Fernsehsender der Rechten, aber immer fleißig dabei, Sex and Crime auf die Bildschirme zu bringen.
„Hollywood-Bashing“, das nach dem Bush-Sieg zum Volksport der Konservativen wurde, ist daher für manche einflussreiche christliche Gruppen wie Focus on Family nicht besonders zielführend. Stattdessen bereiteten sie sich systematisch auf die Premiere vor, seit die Pläne von Filmemacher Bill Condon, Kinsey kinematografisch zu verarbeiten, vor zwei Jahren bekannt wurden. Sie versuchen weniger mit moralischen, sondern mit wissenschaftlichen Argumenten zu kontern und Kinsey als Betrüger zu entlarven. „Wir wollen eine ernsthafte intellektuelle Debatte über die Person Kinsey und seine zweifelhaften Forschungen“, sagt Sprecherin Kristi Hamrick.
So bedienen sie sich zum Beispiel der Autorin Judith Reisman, die 1991 ein Buch mit dem Titel „Kinsey, Sex und Betrug“ veröffentlichte. Kinsey sei ein Krimineller, ein Pädophiler, der seine statistischen Daten manipulierte und zu viele Interviews mit Straftätern führte, schreibt sie. Diese Botschaft will Focus on Family auf Flugblättern in Kinos verteilen. Für Reisman war Kinsey kein Wissenschaftler, sondern ein „sexueller Abenteurer“, der sich zum Ziel gesetzt hatte, die amerikanische Kultur des 20. Jahrhunderts umzukrempeln.
Kinsey-Kenner und Vertreter des anderen Lagers im Kulturkrieg sind erbost über die späte Verleumdungskampagne. Die Tatsache, dass er Prostituierte und Häftlinge befragte, sei noch längst kein Ausweis mangelnder Wissenschaftlichkeit, sagt Jennifer Bass von der Indiana University, wo Kinsey einst lehrte.
Nach Ansicht des Historikers James Jones bestreitet zwar niemand, dass seine 18.000 Interviews nach heutigem Forschungsstand keine perfekten Stichproben waren, doch gebe es keine Beweise, dass er seine Daten verfälscht habe. Für ihn ist Kinsey unbestritten ein Vorreiter der sexuellen Revolution in Amerika. „Doch es ist lächerlich, ihn daher zum Sündenbock zu machen. Die Zeiten änderten sich damals. Kinsey reflektierte und beschleunigte dies.“
Regisseur Condon überrascht die Aufregung über seinen Film nicht. „Amerika ist heute die zügelloseste Gesellschaft seit dem alten Rom und zugleich eine extrem puritanische Kultur“, zitiert er den Kinsey-Biografen Jonathan Gathorne-Hardy. „Und beides erzeugt heftige Spannungen.“ Derzeit, nach dem Wahlerfolg ihres Mannes im Weißen Haus, sehen sich Puritaner und christliche Fundamentalisten im Aufwind. Ihre Angriffe auf Kinsey sind der Versuch, die Geschichte neu zu schreiben – in diesem Falle die der verabscheuten libertinären 60er- und 70er-Jahre. Aber auch anderswo waren sie erfolgreich. Sie setzten bei der Nationalen Parkverwaltung durch, dass Bücher über den Grand Canyon nicht mehr geologische Kräfte für seine Entstehung verantwortlich machen, sondern göttliche. Es war die Sintflut, you know?