: „Die Bevölkerung muss ihr Verhalten ändern“, sagt Meinhard Miegel
Das heutige Gesundheitssystem ist unbezahlbar. Deswegen müsste sich das Reformtempo erhöhen
taz: Herr Miegel, der CSU-Gesundheitsexperte Horst Seehofer ist lieber zurückgetreten, als den Unions-Kompromiss mitzutragen. War es klug von Stoiber und Merkel, es zu diesem Eklat kommen zu lassen?
Meinhard Miegel: Es war wohl unvermeidbar, denn die Parteivorsitzenden können sich auf Dauer niemanden leisten, der pausenlos schlecht macht, was sie vereinbart haben.
Was wird nun aus der Gesundheitspolitik der Union?
Ich glaube nicht, dass es bis zur Bundestagswahl noch Änderung bei dem Modell der beiden Parteivorsitzenden geben wird. Was nach 2006 aus dem Ganzen wird, das müssen wir abwarten.
Es gibt doch kaum jemanden, der das Modell für sinnvoll hält.
Es hat in der Tat Schwächen. Es ist schwer zu durchschauen und ziemlich bürokratisch. Vor allem aber ist das Zahlenwerk von Stoiber und Merkel nicht zu halten. Weder wird es für die Arbeitnehmer bei 109 Euro noch für die Arbeitgeber bei den in Aussicht genommenen Beträgen bleiben. Denn an den Ausgaben wird nichts wirklich geändert.
Können Sie dem Modell etwas Positives abgewinnen?
Es ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. So wurde der Versuch unternommen, stärker zwischen den Kosten der Arbeit und den Kosten der Sozialsysteme zu trennen.
Darüber hinaus wird vielleicht das Bewusstsein der Öffentlichkeit geschärft, dass jeder für den Erhalt seiner Gesundheit mit verantwortlich ist. Aber all das reicht noch nicht aus, um das Gesundheitssystem zukunftsfähig zu machen.
Was wollen Sie denn noch?
Ich will, dass der Bevölkerung klipp und klar gesagt wird, dass ihr Gesundheitssystem, so wie es sich heute präsentiert, auf Dauer unbezahlbar ist. Die Bevölkerung muss ihr Verhalten ändern. Jeder Zweite macht sich durch seine Lebensführung selbst krank. Weiterhin muss für die bevorstehenden schwierigen Jahre und Jahrzehnte ein Kapitalstock gebildet werden. Für jeden Versicherten müssen mindestens 20 Euro im Monat auf die hohe Kante gelegt werden.
Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn alle – egal wie viel Geld der Einzelne hat – mehr oder weniger gleich hohe Beiträge bezahlen sollen?
Man kann dem Unions-Kompromiss viel vorwerfen – der Vorwurf der sozialen Ungerechtigkeit zieht jedoch nicht. Wirtschaftlich Schwächere werden nicht höher belastet als bisher, und wirtschaftlich Stärkere werden sogar entlastet. Dieser Entlastung steht gegenüber, dass die wirtschaftlich Starken erheblich mehr Steuern bezahlen – über die im Merkel-Stoiber-Modell ein wesentlicher Teil der solidarischen Umverteilung organisiert werden soll.
Sie wollen also weniger Solidarität und mehr Eigenverantwortung?
Solidarität und Eigenverantwortung gehören zusammen. Jeder Mensch trägt zunächst Verantwortung für sich selbst. Erst wenn er dazu nicht in der Lage ist, hat er Anspruch auf Solidarität. Praktisch heißt das, dass jeder seine Krankheitskosten aus eigener Tasche bezahlt, bis er die Grenzen seiner Belastbarkeit erreicht hat. Es sollte Selbstbehalte geben von bis zu 600 Euro im Jahr. Umso mehr Mittel stehen dann zur Verfügung, um schwere oder chronische Krankheiten solidarisch abzusichern. Ferner sollte jeder die Kosten selbst verschuldeter Krankheiten – etwa Nikotin-, Alkohol- oder Drogensucht, selbst bezahlen.
Ist das nicht ungerecht, weil diese Süchte in unteren Bevölkerungsschichten stärker verbreitet sind?
Der Begriff der Gerechtigkeit scheint mir hier fehl am Platze zu sein. Ist es denn gerecht, wenn jemand bewusst seine Gesundheit ruiniert und dann fordert, das andere dafür aufkommen?
Ihre Vorschläge wären der Durchbruch für ein Zwei-Klassen-Gesundheitssystem.
Jeder sollte doch das sicherste Auto fahren und die schönste Wohnung haben. Solche Versprechen klingen wunderschön, sind aber nicht zu halten. Es wird kommen wie bei der Rente. Da wurde der Bevölkerung eine lebensstandardsichernde Versorgung versprochen und jetzt wird die gesetzliche Altersversorgung zügig auf eine bloße Grundsicherung zurückgeführt. Im Gesundheitssystem wird in absehbarer Zukunft jeder seine Grundversorgung selbst zu tragen haben. Nur aufwändigere Medizin wird kollektiv finanziert.
Hartz IV hat gezeigt, dass auf soziale Einschnitte harte Proteste folgen. Ihre radikalen Reformwünsche würden noch mehr Protest provozieren.
Die Montagsdemonstrationen sind bemerkenswert schnell in sich zusammengefallen – die Menschen haben eingesehen, dass kein Weg an den Reformen vorbeiführt. Das sind schwierige Lernprozesse, denn wir haben gut 30 Jahre lang maßlos über unsere Verhältnisse gelebt.
Wie kann die Politik die Bevölkerung denn erziehen?
Die Praxisgebühr ist ein Beispiel. Sie hat bereits erhebliche Verhaltensänderungen der Bevölkerung bewirkt. Die Bevölkerung muss am eigenen Leibe erfahren, wie viel oder wenig mit dem finanziert werden kann, was sie an Abgaben aufbringt.
Bislang wurde oft das Bild des Reformstaus bemüht. Haben wir den überwunden?
Natürlich nicht! Aber immerhin diskutieren wir jetzt über lang verdrängte Fragen. Das Erkennen schreitet voran, auch wenn wir vom Handeln noch weit entfernt sind. Deshalb müssen wir das Reformtempo erhöhen.
INTERVIEW: SASCHA TEGTMEIER