friedrich wolf als ratgeber
: Nackt und gesund

Man möchte ihn nicht zum Vater gehabt haben. Wer die Kinderbeine unter seinen Tisch steckte, musste davon ausgehen, morgens zum Freikörperfrühsport geweckt, anschließend mit kaltem Wasser übergossen und mit einem herzhaften Körnermüsli abgefrühstückt zu werden.

Friedrich Wolf, Arzt, Kommunist, Autor und Verfechter des ganzheitlichen Lebensstils, hatte Kinder: Seine Söhne Konrad und Markus wuchsen nach lebensreformerischen Maßstäben auf und wurden im Krankheitsfall von ihrem Vater naturheilkundlich behandelt. Davon zeugen zahlreiche Fotos in dem jetzt als Reprint vom Mitteldeutschen Verlag wiederaufgelegten Buch „Die Natur als Arzt und Helfer“: Der neun Monate alte Konrad steht im Laufställchen – zu DDR-Zeiten wird er erfolgreicher Regisseur und nach seinem Tod 1982 Namensgeber der Potsdamer Filmhochschule. Der dreijährige Markus springt nackt in eine Sandgrube – ab 1958 war er Chef der Hauptabteilung Aufklärung der Staatssicherheit. Dazu Fotos des Vaters, wie er Gymnastik und Massagen demonstriert, bevorzugt unbekleidet.

1928 schrieb Friedrich Wolf diesen frühen Bestseller der Ratgeberliteratur. Seinerzeit lebte er als Hausarzt in Schwaben, hatte als Schiffs- und Stadtarzt praktiziert. Er behandelte Arme und Reiche, denen meist eines fehlte: das Verständnis von der Ganzheitlichkeit des eigenen Körpers. „Du willst es schnell und bequem haben, so schufst du dir deine Fachärzte“, verspottet er den Leser im Vorwort, „bedenkst aber nicht, dass jeder Missbrauch deines Köpers [….] einzig durch eine Umkehr in deinen Lebensgewohnheiten“ zu beheben ist.

Um seine Leser zur Umkehr zu bewegen, scheut Wolf vor keinem vertraulichen Du, vor keinem Ausrufezeichen, keinem noch so drastischen Syphilis-Foto zurück. Er verordnet nicht nur Sport und fleischlose Kost, er preist auch die Bauhaus-Architektur, wirbt für fußgerechtes Schuhwerk und Leinenkleidung. Denn „nur wenige Menschen sind in der Lage, zwei- bis dreitägig Hemd und Unterzeug zu wechseln“. Er erklärt den Einsatz von Brustwickeln, doziert über Reformpädagogik, predigt die „Ehe auf Probe“, damit später ausschließlich Wunschkinder geboren werden, und zeitgemäße Verhütungsmethoden.

Schwangerschaft, Geburt und das Recht der Frau auf körperliche Selbstbestimmung wurden in den folgenden Jahren zum zentralen Thema des schreibenden Arztes. Sein Sozialdrama „Cyankali – § 218“ von 1929, das ihn als Autor in linken Kreisen überaus populär machte, war in DDR-Schulen Pflichtlektüre. Ein grausiger Parforceritt durch die gesellschaftlichen Abgründe der 20er-Jahre. Erst nach der Wiedervereinigung mussten Ost-Frauen feststellen, dass es sich beim Thema Paragraf 218 nicht um antiimperialistische Greuelpropaganda handelte: Sie, die ein liberales Abtreibungsrecht kannten, unterstanden ab dem 3. Oktober 1990 einem Recht aus dem Kaiserreich.

Dank solcher Déjà-vu-Erlebnisse erweist sich die Lektüre von Wolfs Ratgeber als aufschlussreich und überraschend aktuell. Was vor 75 Jahren aufklärerisch war – der ganzheitliche Heilansatz –, könnte auch jetzt noch als Manifest alternativer Ärztevereinigungen durchgehen und wird von Patienten bis heute herbeigesehnt. Spätestens wenn ihnen der eine Facharzt nach dreiminütiger Konsultation die Überweisung zum nächsten Spezialisten in die Hand drückt.

Wolf, der nach Jahren des Moskauer Exils der DDR als Botschafter in Polen diente, verlangte schon 1929 von seinen Patienten, was heute in linken Kreisen gesundheitspolitischer Konsens ist: Naturheilmittel, mehr körperliche Selbstbestimmung, weniger Apparatemedizin. Bei ihm selbst, der davon ausging, der Mensch könne durch gesunde Lebensweise mehr als 140 Jahre alt werden, hat es dazu nicht gereicht. Er wurde nur 64 und starb 1953 an einer verschleppten Grippe. ANJA MAIER

Friedrich Wolf: „Die Natur als Arzt und Helfer“. mdv, Halle/S. 2003, 676 Seiten mit zahlr. Abb., 30 Euro