: Wer streikt, hat Recht!
Kompetent, pragmatisch, an alle gerichtet: Die Effekte der Studentenstreiks gehen über universitäre Selbstvergewisserungen hinaus. Ein Gründergeist ist spürbar: Wenn sie das Volk nicht zur Wissenschaft lassen, kommt die Wissenschaft eben zum Volk
VON CORD RIECHELMANN
Der Berliner Religionsphilosoph und Gründungsstudent der Freien Universität, Klaus Heinrich, hat die 68er-Bewegung einmal die letzte Liebeserklärung der Studenten an die Universität genannt. Marc Simons hat neulich in der FAZ die gegenwärtigen Studentenproteste als „eine große Liebeserklärung an die Professoren“ bezeichnet. Dazwischen ist viel passiert, nur eines nicht: Die Massenuniversitäten haben in einer der nach oben undurchlässigsten Gesellschaften Europas die Kluft zwischen Wissenschaft und Volk nicht schließen können.
Nun sind es ausgerechnet Sozialdemokraten und so genannte Sozialisten von der PDS, die daraus den sozialdemografischen Schluss ziehen, via Kürzungen die Veranstaltung Universität wieder zu dem zu machen, was sie in Deutschland auch immer war. Im Unterschied zu zum Beispiel Frankreich waren Universitäten hierzulande meist obrigkeitsstaatliche Gründungen mit eben auch dem Zweck, Staat und Markt gut ausgebildetes Bedarfspersonal zur Verfügung zu stellen.
Das ist besonders in Berlin nicht ohne Witz, denn mit der Freien Universität hat die Stadt eine Lehranstalt, die genau gegen die obrigkeitsstaatliche Gängelung des Wissenschaftsbetriebs gegründet worden ist. Für diese Pikanterie scheint es bei vielen Beteiligten der gegenwärtigen Streikaktionen in Berlin und anderswo ein Bewusstsein zu geben. Als vergangene Woche Klaus Marxen, Professor an der juristischen Fakultät der Humboldt-Universität, den Satz „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!“ vor der Weltzeituhr am Alexanderplatz in einer öffentlichen Vorlesung als Floskel entlarvte, konnte er sich nicht nur der leuchtenden Gesichter seiner aufmerksam begeisterten ZuhörerInnen sicher sein. Als die Stadtreinigung im Hintergrund bei laufendem Motor den Abfall beseitigen wollte, fand sich sofort ein Streikposten, der den Fahrer bat, den Motor abzustellen.
Das ist erst einmal merkwürdig. Hatte die Szene doch überhaupt nichts mehr mit dem gemein, was man vom letzten großen Tutorenstreik der Jahre 1988/89 an den Westberliner Universitäten kannte. Von der Polizei in die Praktika und Seminare geleitete Streikbrecher und Dozenten sucht man bisher genauso vergeblich wie die damals ausgerechnet in der Pflanzenphysiologie der FU ausgegebene Parole „Wir brauchen keine Theorie, wir brauchen das Leben!“
Der Eindruck, dass das Verhältnis zwischen den meisten Professoren und den streikenden Studenten diesmal ein anderes sei als bei vorangegangenen Auseinandersetzungen, stimme schon, sagt Gerhard Goehler, Professor am Otto-Suhr-Institut (OSI) für Politikwissenschaften der FU. Das fange schon damit an, dass er morgens grüßend an den studentischen Besetzern des Instituts vorbei in sein Büro gehe. In einer solchen Atmosphäre falle es leichter, die Aktionen der Studenten zustimmend zu begleiten.
Goehler weist im Gespräch aber auch gleich darauf hin, dass er viele Forderungen der Studenten für unrealistisch hält und auch einige Befürchtungen nicht teilt. So sieht er im Unterschied zu anderen Dozenten und Studentenvertretern durch die Kürzungen und die Studienreform auch die bisher gebotene Ausbildungsvielfalt nicht in Gefahr. An seinem „Minimalkonsens“ mit den Studenten, wie er es nennt, ändere das aber nichts. Was im Moment in der Stadt geschehe, gehe an die Substanz der Universitäten, und da sei es erfreulich, dass die universitätsinternen Auseinandersetzungen mit wenig Aggression und freundlich geführt würden. Die Aktionen seien nach außen gerichtet.
Und „draußen“ werden sie wahrgenommen. Ob es sich dabei um einen 76,5-Stunden-Physikvorlesungsmarathon handelt oder um das Badengehen in der Spree oder das Gegen-den-Strom-Rudern auf demselben Fluss oder das Backen von Studienplätzchen, die Aktionen werden als witzig empfunden und finden ihr Echo in den Medien. Der Umgang mit den Medien ruft aber auch sofort die Kaste der alten Fundamentalkritiker auf den Plan. Denn dass die einen als Teil des „gesellschaftlich Imaginären“ am Ende sowieso einmachen, wissen die „Alten“ schon immer.
Magali Mander, studentische Streikaktivistin am OSI, gibt denn auch unumwunden zu, dass die Streikaktionen im Spiegel der Medien betrachtet werden. Man treffe sich morgens an den Infoständen in den bestreikten Instituten und diskutiere die Reaktionen. Das hat verschiedene Gründe. Einmal hänge es natürlich mit der „Richtung“ des Streiks zusammen. Der Streik richte sich an alle. Und wenn man nicht wahrgenommen werde, erreiche man eben auch nichts; insofern überlege man sich bei in den Medien „untergegangenen“ Aktionen schon, was man falsch gemacht habe.
Daraus spricht eine Unsicherheit, die man auch als selbstkritisch bezeichnen kann; das Gespräch gerade mit den Kritikern des Streiks wird dabei sehr gesucht. Es sei schon auch so, sagt Mander, dass selbst in den studentischen Vollversammlungen, in denen beschlossen wird, ob der Streik weitergeführt oder beendet werden soll, die Diskussion, ob man als VV überhaupt ein politisches Mandat habe, dies tun zu dürfen, selbst unter den Befürwortern die Regel sei.
Der Typus des halbgebildeten autoritären theoretischen Besserwissers scheint in diesem Streik abhanden gekommen zu sein. Beziehungsweise hat er eine Transformation erfahren. Natürlich gibt es auch Gegner des Streiks, deren Argumente von „Uns geht es immer noch zu gut“ bis hin zu, dass man mit dem Streik ja doch nichts erreicht, reichen. Nur treten ihre Verfechter nicht in Erscheinung. Wie Mander sagt, kommunizierten sie untereinander hauptsächlich über das Netz und E-Mails, tauchten auf den Veranstaltungen, obwohl man sie eingeladen habe, nicht auf. Und seien auch sonst in der Auseinandersetzung eher persönlich als öffentlich. Eine politische Markierung ihrer Positionen ist deshalb über die Gegnerschaft zum Streik hinaus auch nur schwer möglich.
Was allerdings die Frage auch nicht erledigt, warum es ausgerechnet jetzt zu einer Situation gekommen ist, in der vor allem „die jüngsten Semester die Universität als Mobilisierung der Fantasie und Einsatzfreude erleben“ (Simons). Studenten und Professoren geben dafür eine ganze Reihe von Gründen an. Am OSI fällt oft der Begriff von der „Modularisierung des Studiums“. Was in etwa bedeutet, dass das Studium um bestimmte unabdingbare „Wissenscluster“ wie „internationale Beziehungen“ organisiert wird und andere Bereiche wie etwa Afrika ganz wegfallen.
Wenn, wie geschehen, noch hinzukommt, dass in einer solchen Situation der amtierende Außenminister im Institut einen Vortrag hält, in dem er die außerordenliche zukünftige Bedeutung Afrikas für unser Land betont, dann wird augenfällig, dass etwas nicht stimmt.
Dass Studenten in dieser gesellschaftlichen Lage in die öffentlichen Räume eindringen und die Professoren gern mitnehmen bei ihren Versuchen, mit „allen“ ins Gespräch zu kommen, hat noch einen über die Medienresonanz hinausgehenden Effekt. Auf den öffentlichen Vorlesungen auf dem Alexanderplatz war nicht nur der unversöhnliche Gegensatz von Recht und Unrecht, in dessen Verhältnis auch das eine nicht zum anderen werden kann, Thema. Es ging auch um die Grundlagen des Mietrechts und bisher hierzulande viel zuwenig genutzte Möglichkeiten der Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion durch die Nutzung afrikanischer und asiatischer Rinderrassen.
Wenn sie das Volk nicht zur Wissenschaft lassen, kommt die Wissenschaft eben zum Volk. Über die studentischen Selbstvergewisserungen in den universitätsinternen Diskussionen hinaus ist das bis jetzt der auffälligste Effekt dieses Streiks. Die medienwirksamen Aktionen gehen nicht hinter den Standard wissenschaftlicher Arbeit zurück. Sie sind damit dem, was die FU-Gründer einmal wollten, merkwürdig nah.
Aufpassen müssen die Studenten in diesen Tagen aber trotzdem. Die Gefahr droht nicht aus den Medien, in deren Resonanzfeld sie ihre Aktionen und Argumente entwickeln. Sie kommt von „oben“. Wenn der für die Universitäten zuständige Senator Thomas Flierl sagt, es werde zwar keinen Cent Geld mehr geben, aber über die Mitbestimmungsforderungen könne man reden, ist Vorsicht angebracht.
Flierl glaubt nämlich, er sei Marxist.