: Helmut auf dem Holzweg
Altkanzler Helmut Schmidt (85) erklärt die Anwerbung von Gastarbeitern in den Sechzigerjahren für falsch. Falsch liegt er selbst – und setzt damit ohne Not die Aura des „elder statesman“ aufs Spiel
VON JAN FEDDERSEN
Die Welt rund um den Neubergerweg ist nicht gut geeignet, Details fürs Ganze zu nehmen. Neubergerweg? Das ist eine Straße am nördlichen Stadtrand Hamburgs, prall besiedelt mit Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger errichteten Reihenhäusern und Bungalows, eingezwängt zwischen dem psychiatrischen Krankenhaus Ochsenzoll und einem Kleingartengebiet, das auf den versiegelten Resten einer Kriegsschutt- und Mülldeponie errichtet wurde. In dieser Gegend wohnen alt gewordene Menschen, viel Ängstlichkeit um Alter und Rente verbirgt sich zwischen den Klinkerhäuschen, das wuchtige Leben im Zeichen irritierender Urbanität hat hier nie stattfinden sollen.
Dort lebt also, seit Anfang der Sechziger, Helmut Schmidt, Altkanzler und Zeit-Herausgeber. Ebendort, das muss eigentlich nicht eigens erwähnt werden, wohnen bis heute keine Menschen, auf die es der prominenteste Bewohner jener Gegend offenbar in Form einer bitteren Bilanz abgesehen hat: Türken, Araber, Libanesen – Gastarbeiter also, um in der traditionellen Diktion zu bleiben.
Von hier aus mag und müsste „Schmidt Schnauze“ (Kosename für seine kläffende Rhetorik, als er noch glänzender Redner im Bundestag war) stetig wahrnehmen, wie die Welt so tickt. Und das hat er nun via Bild-Zeitung zu Protokoll gegeben – was er von der klärenden Diskussion, dem mithin friedensstiftenden Diskurs um Integration, Multikulturalismus und Einwanderer so hält. Nichts nämlich, gar nichts.
Wie ein Feldwebel, der immer noch bedauert, dass nicht dauernd Sturmfluten wie 1962 in Hamburg sein offiziershaftes Organisationsgeschick erfordern, dekretierte er: „Es wurden manche Fehler gemacht. Viel zu lange wurde die Integration der so genannten Gastarbeiter vernachlässigt.“
Als ob er nicht selbst, an der Macht beteiligt oder an ihrer Spitze von 1974 bis 1982, fahrlässig versäumte, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen; dass es ohne die „Gastarbeiter“ das bundesdeutsche Wirtschaftswunder nie gegeben hätte; dass gerade Migranten aus Sizilien, Galicien, Anatolien, der Algarve, dem Peloponnes, dem Maghreb oder der Krajina die Drecksarbeit gemacht haben; dass ohne die Einwanderer immer noch alles wie Hamburg-Langenhorn aussehen würde, komplett mit Jägerzäunen und Carports.
Nein, Helmut Schmidt weiß nicht mehr Bescheid. Er, dem man doch immer unterstellen konnte, zu sagen, was außerhalb gutherziger Feuilletons gesellschaftlich so gemurmelt wird, hat keine Fühlung mehr mit dem neuen Deutschland, mit den Mühen und Zähigkeiten eines zivilisierten Zusammenlebens verschiedener Kulturen und Welthaltungen. Er hat keine Ahnung, dass nicht das Muslimische vielen Deutschen ein Problem ist, sondern dessen Segregation. Aber in dieser Hinsicht, das lernt man seit den Debatten nach dem Mord an Theo van Gogh, müssen sich die teutonischen Deutschen auch an die eigene Nase fassen: Die Schuld ihrer Eltern abtragen, Migranten nur als Gastarbeiter geduldet zu haben – nicht als neue Bürger und Bürgerinnen.
Hätten sie dies früher begonnen, was Schmidt und die Seinen sträflich vernachlässigt haben, könnte heute freier, also bürgerrechtlicher über Zwangsheirat, erniedrigte Frauen, geschlagene Kinder, religiösen Wahn und Begriffe wie Ehre und Scham gesprochen werden.
Helmut Schmidt, der alte Mann mit dem manchmal ja auch charmant-mürrischen Zungenschlag à la Offizierskasino, irrt: Seine Welt ist nicht mehr die Welt der meisten Deutschen. Die kennen Döner, Raki und Sertab Erener, und zwar gern, die kennen noch ganz andere alltagskulturelle Errungenschaften – und sind keine Deutschen mehr, wie sie dieses Land noch vor 50 Jahren bevölkerten. Wir sind durch und durch amerikanisiert – und europäisiert obendrein.
Helmut Schmidt weiß nicht, dass es keine kollektive Sehnsucht nach Obrigkeit mehr gibt – und nur diese hält er für tauglich, kulturelle Verschiedenheiten im Zaum zu halten. Nix da mit Obrigkeit: Die aufgeklärte Debatte geht um Abgründe in den Parallelgesellschaften. Sie nicht schon vor langer Zeit zum Gegenstand der Debatte gemacht zu haben, ist das Versäumnis der Postnazigeneration.
Migranten mögen fremd gewesen sein – sie sind es nicht mehr zwingend. Aber den Deutschen wird langsam einer wie Helmut Schmidt sehr, sehr fremd. Und das ist sehr, sehr schade für einen sozialdemokratischen Helden antitotalitärer Pragmatik, für einen, der Karl Popper seinen Lieblingsphilosophen nennt, sehr, sehr schade.