: „Die Ukrainer sind von der EU enttäuscht“
Europas Interesse an Russlands Rohstoffen verhindert den kritischen Dialog, kritisiert Elisabeth Schroedter
taz: Frau Schroedter, angesichts der Proteste in der Ukraine läuft die EU gerade zu Hochform auf. Brüssel scheint aufgewacht zu sein. Hat Europa das Land zu lange ignoriert?
Elisabeth Schroedter: Die Europäische Union hätte an die Ukraine eine klare Botschaft senden müssen: Dass das Land bei entsprechendem Erreichen der Kriterien langfristig eine Chance auf Mitgliedschaft hat. Doch das hat Europa versäumt. Stattdessen ist die Botschaft rübergekommen, dass die Ukraine auf dem Level von Libyen ist. Das hat viele enttäuscht, die gehofft haben, dass durch eine klare Botschaft auch die vielen Zweifler in der Ukraine, die nicht an eine europäische Perspektive glauben, ins Lager des prowestlichen Kandidaten gezogen werden können. Es muss eine klare Botschaft von der EU geben. Nur so gelingt es, die Reformen in der Ukraine voranzutreiben.
Wieso ist das klare Signal ausgeblieben?
Das war in der EU nicht transportabel. Romano Prodi hat während seiner Amtszeit gesagt, wir bieten der Ukraine alles an, nur keine Mitgliedschaft. Das war eine echte Ohrfeige für viele engagierte Kräfte in der Ukraine. Daraufhin hat das EU-Parlament massiv Lobbyarbeit gemacht und gesagt: Wir müssen eine Politik der offenen Tür machen, die sagt: Step by step, das heißt, demokratische Entwicklungen in der Ukraine werden mit besseren Angeboten vonseiten der Europäischen Union beantwortet. Das haben wir auch durchgesetzt, aber leider wurde nur die Prodi-Version weitergetragen.
Die zentrale Wahlkommission der Ukraine hat Janukowitsch jetzt offiziell zum Sieger der Präsidentenwahlen erklärt, obwohl sie bis zum 6. Dezember Zeit gehabt hätte, das Ergebnis zu verkünden. Wie sieht die Strategie der EU jetzt aus?
Die Terminverschiebung wäre eine Chance gewesen, um noch eine Untersuchung der Wahlen einzuleiten, die hat die Wahlkommission vertan. Jetzt können nur noch die Gerichte entscheiden, doch ich bezweifle, dass sie in der Lage sind, dies zum jetzigen Zeitpunkt frei und unabhängig zu tun. Das grundsätzliche Problem aber bleibt: Der Vorwurf massiver Wahlfälschungen steht weiter im Raum. Solange das so ist, ist der offizielle Wahlsieger kein sicherer Ansprechpartner und nicht handlungsfähig. Die EU muss aber an einer legitimen Führung in Kiew Interesse haben. Deshalb wird sie jetzt darauf dringen, dass es eine unabhängige Untersuchung der Wahlen gibt. Ein EU-Sonderbeauftrager soll in Kiew dafür sorgen, dass diese Untersuchung stattfindet. Über die Entsendung einer Delegation wird noch beraten.
Wie beurteilen Sie die Position Russlands in dieser Frage?
Für die EU muss es jetzt darum gehen, Russland für diese Strategie zu gewinnen. Dass das gelingt, bezweifle ich, weil sich Russland ja vorher klar für Janukowitsch positioniert hat. Doch jetzt müssen wir nach vorne schauen. Da ist die Frage: Wie kann in der Ukraine eine Situation geschaffen werden, die eine demokratische Entwicklung ermöglicht? Dazu gehört eine Bevölkerung, die daran glaubt, dass Wahlen auch wirklich zu fairen Ergebnissen führen. Dahinter steckt ja auch die Frage, ob die Demokratie überhaupt einen Sinn hat.
Sie bezweifeln ja selbst, dass Russland mit ins Boot geholt werden kann. Wäre es jetzt nicht auch mal an der Zeit für die EU, ihren Kurs gegenüber Moskau zu überdenken?
Das würde ich mir sehr wünschen, aber leider sehe ich dazu nicht die Bereitschaft bei den Mitgliedstaaten und auch nicht bei der Kommission. Das Interesse an den Energieressourcen ist eben größer, und deshalb gibt die EU auch immer wieder nach. Das aber bringt gar nichts. Ja, man stärkt Putin noch in seinem Gefühl, Regionalmacht zu sein und seine Konditionen diktieren zu können. Praktisch hat in den Beziehungen Russland–EU im Moment Russland das Sagen. Ich kritisiere das massiv, weil sich damit die EU als Akteur in diesen Beziehungen im Moment selber nicht mehr ernst nimmt. Sie ist nicht willens, Einfluss zu nehmen im Hinblick auf eine demokratische Entwicklung in Russland. Zwar kommt das Thema immer mal wieder auf die Tagesordnung, aber das ist rein formal und dafür da, dass das Parlament Ruhe gibt. Zwar könnte es jetzt unter dem Einfluss der Abgeordneten aus Polen und den baltischen Ländern noch mehr Druck aus dem Parlament geben. Aber in der Außenpolitik ist unser Einfluss sehr gering.
INTERVIEW: BARBARA OERTEL