: „Historiker sind Hofnarren“
Es gibt keine theoretische Wunderwaffe, mit der man die Welt fassen könnte: Richard J. Evans plädiert für unterhaltsame linke Geschichtsschreibung, die das theoretische Baby trotz allem nicht sofort mit dem marxistischen Badewasser ausschüttet
INTERVIEW ANNA LEHMANN
taz: Sind Sie links, Mr. Evans?
Richard J. Evans: Ich bin Mitglied der Labour Party. Ob das heutzutage links ist oder nicht, weiß ich nicht. Aber ich habe mich immer als linker Historiker verstanden und habe über Fragen und Themen geforscht habe, die eher links als rechts sind. Zum Beispiel über die Geschichte der Frauenemanzipation oder über soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Ich habe ein sehr breites Verständnis von links. Links ist für mich nicht gleich sozialistisch oder marxistisch.
Glauben Sie, dass die kapitalistische Gesellschaft veränderbar ist?
Ja.
Wie?
Vor allem durch die Tätigkeit der Leute und Organisationen, die die Verhältnisse verändern wollen.
Und welchen Beitrag kann die Geschichtswissenschaft leisten?
Wenn man sich hauptsächlich der Veränderung der Gesellschaft widmen will, dann wird man nicht Historiker, sondern Politiker. Historiker zu sein heißt, dass man mehr Interesse für die Vergangenheit als für die Gegenwart hat. Die Frage nach Veränderungen in der Gegenwart ist in diesem Sinne sekundär. Die primäre Frage ist, die Geschehnisse zu interpretieren. Aber meines Erachtens muss man die Vergangenheit verstehen, um die Gegenwart zu verändern.
Das meinte Karl Marx auch. Ihm zufolge soll der Mensch ein historisches Bewusstsein entwickeln. Da gehen Sie also mit den Marxisten konform. Andererseits haben Sie aber mal gesagt, der Marxismus sei tot. Warum?
Als Historiker, der sich mit dem 19. und 20. Jahrhundert beschäftigt, glaube ich, dass Marx und Engels noch immer lesenswert sind. Der Marxismus hat sich aber sowohl im weiteren als auch im engeren Sinne als Sackgasse erwiesen. Im weiteren Sinne ist die Idee, dass die Geschichte durch den Klassenkampf zum Schlusspunkt, nämlich zur proletarischen Revolution gelangt, zu simpel. Das stimmt einfach nicht. Die Arbeiterklasse in den hoch entwickelten Industrieländern hat sich nicht als Träger des sozialen Fortschritts erwiesen. Im engeren Sinne hat der Marxismus Schwächen offenbart. Der Marxismus war unfähig, Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus zu erklären.
Es gibt einige Neomarxisten, zum Beispiel Robert Miles, die diese Themen erforschen.
Es gibt natürlich viele Versuche, aber letztendlich reduziert der Marxismus diese Ideologien und Vorurteile auf Klassenkonflikte oder wirtschaftliche Phänomene. Sie haben aber ihr eigenes Gewicht. Und in den letzten Jahren, vor allem in den 80er- und 90er-Jahren, gibt es viele neue soziale Bewegungen, die nicht mit der marxistischen Theorie zu interpretieren sind, wie die Frauenbewegung, die Schwulenbewegung, ökologische Bewegungen und so weiter.
Materialistische Ansätze greifen bei der Analyse solcher Bewegungen also nicht. Wie steht es mit Theorien, die die Gesellschaft unter kulturellen Gesichtspunkten betrachten. In den USA und Großbritannien sind solche Theoretiker, zum Beispiel Michel Foucault, der Renner unter den Linken. Sind sie eine würdige Antwort auf Marx?
Es gibt keine theoretische Wunderwaffe, mit der man diese veränderte politische und kulturelle Welt fassen kann. Wenn ich mir die Geschichtsschreibung in Großbritannien und den USA anschaue, die sich heutzutage als links einstuft, dann bringt diese Herangehensweise eine große Gefahr mit sich: Nachdem man den Marxismus kritisiert hat, weil er alles auf die Auswirkungen der wirtschaftlichen Lage reduzierte, wird nunmehr alles auf Kultur und Ideologie zurückgeführt. Das heißt aber, dass man das theoretische Baby mit dem marxistischen Badewasser ausschüttet. Viele linke Historiker, die alles aus kultureller Perspektive interpretieren, vernachlässigen den ökonomischen und sozialen Kontext.
Wie sollte moderne linke Geschichtsschreibung also aussehen?
Erst einmal sollte sie sich durch eine große Bandbreite auszeichnen. Wenn man die rechte Geschichtsschreibung ansieht, gibt es starke Tendenzen, alles auf die „hohe Politik“ zu reduzieren und sich auf die „großen Männer der Geschichte“ – nicht die Frauen – zu konzentrieren. Zumindest ist das in England so. Und die Geschichte der Massen, der Unterdrückten, der Frauen wird als unbedeutend ausgeklammert. Sie hätten angeblich keine Rolle bei der Veränderung der Gesellschaft gespielt. Eine linke Geschichtsschreibung nimmt eine breite Perspektive ein, was den Stoff betrifft.
Die Geschichte der „hohen Politik“ ist Unterrichtsstoff und überall nachzulesen. Wie bringt man als linker Historiker seine Themen in den gesellschaftlichen Diskurs ein?
Indem man für ein breites Publikum schreibt und indem man interessant schreibt.
Ihr Buch „Der Geschichtsfälscher“, worin sie den Prozess des Holocaust-Leugners David Irving nachvollziehen, bei dem Sie ja als Gutachter auftraten, verkauft sich in Deutschland aber sehr schlecht.
Ja, interessant. In Deutschland wurden nur ein paar hundert Exemplare verkauft. Das liegt zum Teil an der schwierigen Situation des deutschen Buchmarktes, zum Teil an der Tatsache, dass der Irving-Prozess in England viel mehr Aufmerksamkeit erregt hat. Das Buch erschien in Deutschland übrigens früher, weil ich in Großbritannien Schwierigkeiten hatte, einen Verlag zu finden. Sechs Verlage haben abgelehnt, weil sie fürchteten, dass Irving eine Beleidigungsklage einreicht. Schließlich hat der Verso Verlag das Buch verlegt. Bisher wurden 5.000 Exemplare verkauft.
Im Gegensatz zu ein paar hundert in Deutschland.
Ja, in Großbritannien gibt es grundsätzlich eine viel größere Überschneidung von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Es gibt ja einige deutsche Wissenschaftler, die auch unterhaltsam schreiben können, aber zu wenige. Ich habe einmal „Die große Geschichte des 19. Jahrhunderts“ von Thomas Nipperdey für eine englische Zeitschrift rezensiert und mich beschwert, dass es in dem ganzen Buch keinen einzigen Witz gibt. Das fand die Frankfurter Allgemeine Zeitung so aberwitzig, dass sie einen Bericht über die Rezension gebracht hat. Ich finde es schade, dass Wissenschaft und Unterhaltung in Deutschland zwei Pole sind.
Und in England ist Geschichtswissenschaft ein fesselndes, gern gelesenes Genre?
In England haben wir zurzeit einen richtigen Geschichtsboom. Es gibt sogar ein besonderes Programm, den „History Channel“, wo man nichts anderes als Geschichtssendungen findet. Und populärwissenschaftliche Werke haben hohe Verkaufszahlen. Allerdings stehen die populärsten Historiker alle auf der rechten Seite des politischen Spektrums.
Und linke Historiker sollen auf diesen schon besetzten Zug aufspringen?
Da gibt es Platz genug.
Darf sich die Geschichtswissenschaft in den Dienst einer Sache stellen?
Nur bedingt. Sicher kann man als Ausgangspunkt eine politische Ideologie haben oder den Glauben, dass das, was man fragt, einer bestimmten Frage dienlich sein kann. Aber sobald man ins Archiv geht und mit den Dokumenten konfrontiert wird, muss man als Historiker bereit sein, jede politische Idee aufzugeben. Historiker zu sein heißt selbstkritisch sein. Und das ist die Bereitschaft, lieb gewordene Ideen fallen zu lassen.
Zum Beispiel?
Jahrzehntelang war es eine beliebte These der Linken, dass das Großkapital Hitler zur Macht verholfen hat. Aber wenn man das anhand von Dokumenten nachprüft, dann stellt sich heraus, dass die Großindustrie bis 1933 keine große Rolle bei der Finanzierung des Nationalsozialismus gespielt hat. Man muss also bereit sein, seine politischen Thesen von den Quellen infrage stellen zu lassen. Und das bedeutet, dass der Historiker ein etwas unbequemes Geschöpf ist. Wie ein Hofnarr, der nicht nur unterhaltsame und interessante Sachen, sondern auch unbequeme Wahrheiten sagt.