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Archiv-Artikel

Geschmack der Kindheit

Die besten Pfefferkuchen kommen aus Sachsen, wo sie den Zeitläuften der Moderne trotzten. Auf Naschtour in Pulsnitz

von TILL EHRLICH

Die Luft ist nasskalt und süß. Es duftet nach Zimt und Honig, Anis und Schokolade. Die Gasse in der Altstadt von Pulsnitz ist eng, kleine Häuser verschwinden im Regenschleier. Unscheinbar wirkt die Pfefferküchlerei von außen. Noch bevor man sie sieht, nehmen die Sinne den betörenden Duft wahr. Er weckt Erinnerungen, die weit zurück liegen. Kindheit. Ein Kontrast zum Grau dieses Novembertages, das selbst am Mittag nicht weichen mag; so richtig hell wird es heute nicht. Die Kleinstadt Pulsnitz liegt in der westlichen Lausitz, 28 Kilometer östlich von Dresden. Nah ist die Grenze zu Polen und Tschechien.

Die Pfefferküchlerei zu betreten gleicht einer Zeitreise. Das Ladengeschäft erinnert an ein hundertjähriges Wohnzimmer, die Dielen knarren, an uralter Tapete hängen Meisterbriefe aus dem 19. Jahrhundert. Neben der Kasse türmt sich dunkles Backwerk. Bunte Herzen aus Pfefferkuchen und altmodische Papiertüten mit süßem Inhalt. Die Pfefferkuchen heißen Pflastersteine und Alpenbrot, Rietschelkuchen und Leckerle. In vier Wochen ist Weihnachten und in der Firma Groschky herrscht Hochsaison, so wie jedes Jahr, seit 1825.

Hinter dem engen Ladengeschäft beginnt ein Labyrinth und Organismus aus verschachtelten Gängen und zahlreichen winzigen Räumen, in Jahrhunderten aus Mauerwerk und Holz gewachsen. Täglich wird in der Backstube süßer Honigteig geknetet, gerollt und gebacken. In einem Kupferbottich werden gerade kleine dicke Pfefferkuchen mit weißem Zucker glasiert. Neben dem Backofen kühlt heißes Backwerk aus. Verströmt intensive Aromen, die an Ingwer und Orangen erinnern. In einem anderen Raum dominiert der Duft dunkler Schokolade. Hier werden fingerdünne Pfefferkuchenrechtecke in heiße Schokolade getaucht.

Das Büro der Firma Groschky ist ein heller Raum von schlichter Funktionalität. An der Wand drei Zinnteller und ein Ölporträt von Ernst Rietschel, Bildhauer des Goethe-Schiller-Denkmals von Weimar und deshalb der berühmteste Pulsnitzer. Listig blickt er auf den Schreibtisch, wo ein PC summt. An dem arbeitet gerade Jens Förster. Der 32-Jährige ist Pfefferküchler in fünfter Generation. Hinter ihm steht im weißen Kittel sein Großvater, Christian Hübler, 74. Er hat den Betrieb vierzig Jahre lang geführt.

Hübler hat in der DDR hartnäckig für den Erhalt seines archaischen Handwerks gekämpft. Und danach auch. Die DDR wollte die acht Handwerksbetriebe von Pulsnitz in einer Produktionsgenossenschaft zusammenfassen. „Das konnten wir glücklicherweise verhindern“, sagt der Senior. 1990 zog die nächste Gefahr herauf, weil die Handwerksverordnung der Bundesrepublik dem Osten übergestülpt wurde. Und darin existierte ein Pfefferküchlerhandwerk nicht. Hübler durfte plötzlich keine Lehrlinge mehr ausbilden. Nach acht Jahren Auseinandersetzung mit Behörden und Politikern haben es die Pulsnitzer 1998 geschafft: Seitdem sind sie wieder ein behördlich anerkanntes Handwerk mit Innung. 1999 gab Christian Hübler den Betrieb an seinen Enkel weiter.

Pulsnitzer Pfefferkuchen ist ein puristisches Gebäck. Er steht in der Lebkuchentradition des Mittelalters, sein Charakter hat sich nur gering geändert. Anders als viele Leb- oder Honigkuchenarten, wird Pulsnitzer Pfefferkuchen ohne Fett, Eier und Konservierungsstoffe hergestellt. Er schmeckt nicht überladen, sondern wohltuend schlicht. Honig und Zuckersirup, Roggen- und Weizenmehl sind die Hauptzutaten. Hinzu kommt das Backtriebmittel Hirschhornsalz. Aber die Seele des Pfefferkuchens ist seine Gewürzmischung, der „Pfeffer“. Mit Pfeffer wurden im Mittelalter alle fremden Gewürze bezeichnet: Zimt, Nelken Muskat, Muskatblüte, Anis, Ingwer und Kardamom. Die Gewürzmischung darf das Gebäck nicht dominieren. Die Pfefferküchler streben eine Harmonie der Zutaten an. Ziel ist die Bekömmlichkeit.

Sorgfalt kommt besonders in der aufwändigen Zubereitung des Teiges zum Ausdruck. Er wird bis zu einem Jahr gereift. Eine ganz leichte und langsame Fermentation gibt dem Gebäck Lockerheit und feine Textur. Jede Pfefferküchlerei verfügt über verschieden gereifte Chargen des Teiges. Aus ihnen wird dann der Teig einer Sorte komponiert, etwa für das sanfte Rietschelbrot oder das betörend würzige Leckerle.

Es waren die Klöster des Mittelalters, die den Pfefferkuchen erfanden. Als süßen Balsam in Zeiten der Strenge. Die Sehnsucht nach Milde äußerte sich in einer Lockerung der strikten Essensvorschriften und einer Abwechslung zur Enthaltsamkeit harter Fastenperioden. An den kirchlichen Feiertagen wurde das honigsüße Gewürzbrot verteilt. Durch die religiöse Tradition fand der Pfefferkuchen Eingang in den Alltag auch des einfachen Volkes. In Pulsnitz wurde 1558 die Zunft der Pfefferküchler anerkannt.

Anders als heute wurde Pfefferkuchen an allen kirchlichen Feiertagen genossen. Der Abstieg zum kitschbunten Kirmesherz vollzog sich erst im 20. Jahrhundert, weil das wirtschaftliche Überleben der Betriebe auch außerhalb der Adventszeit gesichert werden musste. Die acht Pfefferküchler von Pulsnitz haben mit ihrem mittelalterlichen Gebäck überlebt. Durch Beharrlichkeit und Sinn für Qualität haben sie etwas Wunderbares und Anachronistisches erhalten.

Dass sie stolze Trotzköpfe sind, spürt man auch in der Pfefferküchlerei Max Spitzer. Auch sie hat ein altes, wunderschönes Ladengeschäft, direkt am Pulsnitzer Marktplatz. Die gefüllten „Spitzen“, Pfefferkuchen im Schokoladenmantel, zergehen förmlich auf der Zunge. „Man muss stur sein“, sagt Brigitte Schurig, Tochter des Firmengründers Spitzer. Hinter ihr hängen Pfefferkuchenherzen. Darauf steht in Zuckerschrift „Ich hab Dich lieb“. Doch Frau Schurig berichtet entrüstet von einer neuen Bedrohung, den mächtigen Handelsketten. Aber immer wenn Gefahr droht, gibt es einen großen Zusammenhalt unter den acht Pfefferküchlern. Vielleicht hat deshalb das altmodische Gebäck in Pulsnitz den Zeitläuften getrotzt. Denn von den einst zahlreichen Pfefferküchlern in Sachsen sind nur die stolzen Acht von Pulsnitz übrig geblieben. Doch für den jungen Jens Förster relativiert sich die Widerstandsmentalität. „Es ist allein die Qualität unseres Pfefferkuchens, durch die wir es geschafft haben“, sagt er.

TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, war zehn Jahre lang Koch in der Hotel- und Spitzengastronomie. Der Journalist und Autor betreut ab sofort die Sättigungsbeilage im taz.magazin