: Übergriffe in der guten Stube
Körting stöhnt über zunehmende Aggressivität gegen Polizisten. Das lässt sich zwar nicht belegen, dafür aber ist sicher: Die meisten Übergiffe gibt es im gutbürgerlichen Charlottenburg-Wilmersdorf
von PLUTONIA PLARRE
Seit ein 18-jähriger Weddinger nichtdeutscher Herkunft Anfang November von seinem Balkon eine Eisenstange auf einen Funkwagen geschleudert hat, sorgt das Thema für Zündstoff. Nicht zuletzt war es Innensenator Ehrhart Körting (SPD), der die Debatte um Gewalt gegen Polizisten mit Ausdrücken wie „neue Dimension“ und „zunehmende Aggressivität“ angeheizt hatte. Zu beobachten sei ein hoher Kriminalitätsanteil von ausländischen Jugendlichen, diktierte Körting den Medienvertretern in den Block und warnte vor Ghettobildung. Die Zeitung Deutsche Polizei, die von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) herausgegeben wird, legte nach. Unter Berufung auf GdP-Mitglieder wurde berichtet, dass es in Berlin „Kieze“ gebe, „in die die Kolleginnen und Kollegen nur mit Verstärkung fahren – auch wenn es nur wegen ruhestörenden Lärms ist –, weil man eben nie wissen könne, wie sich die Sache entwickele …“
Damit können nur Neukölln und Kreuzberg gemeint sein, dachte sich der innenpolitische Sprecher der FDP, Alexander Ritzmann, fragte zur Sicherheit aber noch mal nach und förderte Überraschendes zutage: Die meisten Widerstandshandlungen gegen Polizisten werden im eher gutbürgerlichen Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf, gefolgt von Mitte und Pankow, begangen. Erst dann kommen Friedrichshain-Kreuzberg, Tempelhof-Schöneberg und Neukölln, gefolgt von Lichtenberg. Das erklärte Polizeipräsident Dieter Glietsch gestern im Innenausschuss auf entsprechende Anfragen von FDP und CDU.
Diese Erkenntnisse, so Glietsch, würden sich mit einer Untersuchung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 2001 für das gesamte Bundesgebiet decken: Tatorte der Angriffe auf Polizisten sind demnach mehrheitlich gutbürgerliche Außenbezirke (46 Prozent). Sozial belastete Bereiche seien „nur“ zu 20 Prozent betroffen. In dem Punkt, was die hohe Beteiligung von Heranwachsenden nichtdeutscher Herkunft angeht, gab Glietsch Körting allerdings Recht. 26 bis 29 Prozent der Tatverdächtigen hätten einen Migrationshintergrund, so der Polizeipräsident nach der Sitzung.
Im vergangenen Jahr sind Berliner Polizisten rund 3.700-mal attackiert worden, 1.100 wurden verletzt. Das Jahr 2003 werde „in etwa“ das Vorjahresniveau erreichen, sagte Glietsch. Die Angiffe reichen von Beleidigung über Widerstandshandlungen bis zur Körperverletzung. Angriffe durch Stein- oder Flaschenwürfe im Verlauf von Demonstrationen wie am 1. Mai sind in dieser Statistik nicht enthalten.
Entwarung geben die Zahlen, was die von Körting Anfang November behauptete Zunahme von Aggressivität gegen Polizisten angeht. Ein Vergleich von 1993 bis heute hat gezeigt, dass Gewalttätigkeiten gegen Polizisten in Wellenbewegungen verlaufen. Der Höchstand war 1998 mit 4.363 registrierten Taten erreicht, der Tiefststand 2001 mit 2.871 Taten.
Was die Hintergründe betrifft, stochern Polizeiführung und Innensenator allerdings im Nebel. Die Ursache sei „Gewalt in der Gesellschaft generell“, sagte Glietsch. „Besonders gefahrenträchtig“ für Beamte seien Einsätze wegen häuslicher Gewalt und Verkehrskontrollen. Die Frage, warum Bezirke wie Wilmersdorf-Charlottenburg Spitzenreiter sind, suchte als Einziger der innenpolitische Sprecher der Grünen, Wolfgang Wieland, zu beantworten: Gewalt gegen Polizisten gehöre zur Alltagskriminalität. Aggression, so Wieland, finde da statt, wo Alkohol fließe, sprich: wo Kneipen seien. Körting, der ungewöhnlich schlecht vorbereitet und rhetorisch nicht in Form zu sein schien, griff das Stichwort dankbar auf: Genau, „da, wo die meisten Kneipen sind“. Meiste Kneipen? Gibt es in Neukölln keine Kneipen? Ritzmann platzte der Kragen. Wie in der Kopftuchfrage agiere Körting auch hier verantwortungslos und „hysterisch“. Dazu der trockene Kommentar von Wieland: „Körting schießt aus der Hüfte.“