Eine Synkope bis zum Absturz

Dizzee Rascal ist das Wunderkind in Britanniens HipHop. In seinen Texten verdichtet sich die Tristesse des Londoner Ostens, im Sondtrack heulen die Sirenen und piepen die Spielautomaten. Heute kommt er ins Knust

„Der digitale Folk für das beginnende Jahrhundert“, hieß es in dieser Zeitung über Dizzee Rascals erstes Album Boy In Da Corner, „Musik von Leuten aus einer Gegend für die Leute einer Gegend.“

Das war im vergangenen Jahr und Dizzee, gerade mal 20 Jahre alt, der heißeste Scheiß im britischen HipHop-Geschehen. Spätestens seit er den renommiertesten Musikpreis des Landes verliehen bekommen hatte, hielt ihn nicht mehr nur Mike „The Streets“ Skinner gar für die Zukunft des Genres im Vereinigten Königreich.

Dizzees Gegend ist der Londoner Osten, und von seinen Leuten zeichnet er ein beinahe apokalyptischs Bild: brutale Polizei und schwangere Teenager, Armut, Drogen und Verbrechen, Stress, Hektik und Unübersichtlichkeit. Real Life, mal gut beobachtet, mal mit einigem schwarzen Humor ersonnen, festgehalten in einem nervös nach oben ausreißenden Ostlondoner Gestammel. „When we ain‘t kids no more“, fragt er sich im tollen „Brand New Day“, „will it still be about what it is right now?“

Man ahnt: Nicht alle, die seine für nicht Einheimische kaum verständlichen Reime bevölkern, werden überhaupt lange genug leben, das Erwachsensein noch mitzubekommen. Das Wunderkind flog bisher lediglich aus etlichen Klassen und durfte irgendwann einzig noch die Musik-Gerätschaften einer Schule nutzen.

Spröde Beats und, sagen wir: 1986 gerade noch als futuristisch durchgegangene Plastiksounds liefern den Soundtrack zu den kaum glamourösen Frontberichten von Captain Rascal. Die Bässe aus den vorbeifahrenden Autos haben ihre Spuren hinterlassen, das Heulen von Sirenen und Alarmanlagen, die Bleeps und Zuckerguss-Melodie-Stückchen aus Spielhallen, Videospielen oder Mobiltelefonen. Dizzee hat offenbar keine erlesene Jazzsammlung, dafür klingen die Tanzmusiken der innerstädtischen Showtime – so heißt sein zweites Album – immer wieder an: Dancehall und 2step, Jungle und Ragga.

Und nicht nur wegen all der Histörchen über sein jugendliches Alter und die musenferne, wenig aussichtsreiche Herkunft ist sein aufgekratzter Sound frischer, aufregender und mitreißender als das Allermeiste in den letzten Jahren. „Wer hierzu tanzt, tut das am Abgrund“, scheint er, trotz allem gut gelaunt, aus seiner Ecke zu näseln. Gerade mal eine Synkope und ein Satzfragment entfernt lauert der Absturz.

Alexander Diehl

Heute, 21 Uhr, Knust