: Deutsche Finsternis
Körperlichkeit und Selbstbeobachtung, Licht und Schatten, Martialisches: Die Band Kante aus der „altmodischen Stadt Hamburg“ (Selbstbeschreibung) spielten ein begeisterndes Konzert in der Maria am Ufer. Furioses Virtuosentum
Zuerst wehte ein laues Lüftchen. Die Sonne schien, es hatte gute 25 Grad, wir saßen auf einer karierten Wolldecke und fischten Champagner und Käsesandwiches aus unserem Flechtkorb, während wir den sanften Klängen lauschten, die von der Freiluftbühne herüberkamen. Noël, Berliner Singer/Songwriter (früher hätte man „Liedermacher“ gesagt) aus dem Contriva-Umfeld, hatte eine Band aufgestellt, um seine sehr nette Platte „Wrong Places“ (Morr Music) als Vorprogramm zur Hamburger Band Kante zu präsentieren. Dumm daran war nur, und damit Schluss mit der Sommerfantasie: Es gab gar kein laues Lüftchen, sondern eine schneidende Kälte, und es war auch kein Freiluftkonzert. Sondern eins in der Maria am Ufer.
So wirkte die zuckrige Musik ein bisschen fehlplatziert. Insgesamt fiel Noëls Darbietung zu bescheiden und gemütlich aus, vier junge Männer und eine Dame an den Keyboards schaukelten auf der Stelle; die säuselnden Songs gerieten zu harmlos und hüftlahm. Kein Groove, der das Ganze in etwas Bewegendes hätte verwandeln können.
Kante, immerhin, hatten schon mal zwei Schlagzeuge dabei. Sieben Menschen kletterten auf die Bühne, gute Verbindungen nach Weilheim (Micha Acher, Rainer Sell) machten launische Tourbus-Späße und eine besonders zum Ende des Konzerts hin perfekte Blechblasunterstützung der fünf Stammkanten möglich. Ohnehin wurden allerlei Instrumente und Besetzungen durchexerziert und ausgestellt, inklusive einer „schweinischen“ Trommel, die nach Affenjauchzen im Urwald klang („Man nennt es auch das Beastie-Boys-Instrument“). Begonnen hatte das Set, von dem neutrale Beobachter ausgestellten Tiefgang, komplizierte Musik und vergeistigte Texte landbekannter Grübelmonster erwarteten, dann tatsächlich mit einem Stück, das merkwürdig variabel durch alle verfügbaren Tonleiter sprang. Peter Thiessen, Sänger und Kopf der Band, schüttelte dazu seine Gardinenfrisur und spähte lässig ins gut besuchte Maria (und das Konzert war nicht billig). „Hallo, wir sind Kante aus der altmodischen Stadt Hamburg und ihr seid unser Berliner Publikum. Mal sehen, was das gibt“, sagte er anschließend. Und sah, es ward gut.
Sie spielten zwar den Hit „Zombi“ gleich vorweg, konnten in der Folge aber mit Rauschsounds und einer schwer langsamen Trippigkeit überzeugen, die von Massive Attack das Siegen gelernt hatte und hier und jetzt am richtigen Ort zum richtigen Zeitpunkt kam. Opulent und weich, tragend und leicht, bedeutsam und verschwindend, alles in derselben Intensität.
Nach einer Weile stand das Publikum nur betäubt herum und staunte Bauklötze, wie der Gitarrist mit seinem Instrument im Bühnenboden herumstocherte und ein wie noch nie gehört klingendes Feedback die draußen herrschende Finsternis erst so richtig ahnen und genießen ließ. Überhaupt haben Musik und Text von Kante etwas schwer Romantisches. Wagner oder Friedrich gingen nämlich ganz ähnlich vor.
Anderseits lassen sich die Thiessen’schen Texte auf das herunterrechnen, was in „Zombi“ noch als Ironie durchgehen kann. Viel Körperlichkeit und Selbstbeobachtung, Licht und Schatten, viel Martialisches. Eins der Lieblingswörter scheint „Schattenriss“ zu sein, in der Tat ein wohlfeiles, altertümliches Wort, für das heutzutage „Silhouette“ gesagt wird. Aber an diesem Abend verschwinden die Worte in der Musik. Teil zwei des Sets bot dann auch zwei ausufernde Instrumentalstücke, milde Exotik (die Instrumente!) und die Ehrenrettung einer Musikrichtung, die von bösen Zungen Jazz genannt wird. Furioses Virtuosentum. Das Publikum war zufrieden, es wurde spät. Schnell noch den Indierock-Stampfer „Die Summe der einzelnen Teile“, ein lahmes Stück hinterdrein, und schon war der Zeitpunkt gekommen, sich zu verabschieden. Ein letzter Blick auf die Waldgeister und raus. RENÉ HAMANN