Die Gesellschaft der Stachelschweine

Es ist paradox: Obwohl die Einsamkeit und das Alleinleben immer alltäglicher werden, wird beides zunehmend stigmatisiert. Gerade der einsame Auftritt in der Öffentlichkeit wird kritisch beäugt. Dabei ist es höchste Zeit zu lernen, dass Alleinsein in Maßen der seelischen Gesundheit dient

VON MICHAEL LÜNSTROTH

„All unser Übel kommt daher, dass wir nicht allein sein können“ Arthur Schopenhauer

Die Einsamkeit hat einen schlechten Ruf. Das verwundert so lange nicht, solange man davon ausgeht, dass die Einsamkeit aufgezwungen wird. Wer nicht die Wahl hat, der leidet unter Einsamkeit. Freiwillige Einsamkeit hingegen könnte positiv konnotiert sein als Zeit, die man sich für sich nimmt, um im großen Strudel der Zeit nicht ganz unterzugehen. Ist sie aber auch nicht: Jemand, der sich allein in der Öffentlichkeit zeigt, ist irgendwie verdächtig. Und zwar der Ungeselligkeit und des Eigensinns. Das ist in der aufgeregten Plapper- und Kommunikationsgesellschaft nicht konform. Mitleidige Blicke treffen den einsamen Kinogänger, Skepsis schlägt dem Alleinesser im Restaurant entgegen, Kopfschütteln erntet der oder die Alleinreisende.

Nacht im stillen Wald

Dabei wird der Soloauftritt immer alltäglicher. Die Zahl der allein lebenden Menschen steigt ständig: Im letzten Jahr lebte in 37 Prozent aller Haushalte nur eine Person. Keine andere Lebensform ist so weit verbreitet. Dennoch sind Einsamkeit und Alleinleben noch immer mit einem Makel verbunden, dem Makel des Außenseitertums und der Freundschaftslosigkeit. Keine andere Lebensform ist so stigmatisiert. Dies dokumentieren 893.000 Googletreffer zum Stichwort Einsamkeit. Die große Mehrzahl der angezeigten Seiten sind Einsamkeitsvermeidungsseiten: Ratgeber, Single-Treffs, Chat Communities.

Im 19. Jahrhundert war die Alleinzeit noch weitaus populärer. Viele Dichter der Aufklärung und Romantik haben gerade durch Rückzug aus dem Leben ihre Kreativität geschöpft. Das zeigt sich an den großen Motiven der romantischen Literatur: Nacht, Selbstreflexion, Traum und das Alleinsein in der Natur. Eichendorffs Gedichte sind dafür symptomatisch: „Wie schön, hier zu verträumen / die Nacht im stillen Wald / wenn in den dunklen Bäumen / das alte Märchen hallt.“ Die sehnsüchtigen Romantiker hätten ohne ihre gelegentlichen Rückzüge vermutlich keine einzige Zeile aufs Papier gebracht. Erhellend in diesem Zusammenhang auch die Erinnerungen von Elisabeth Mann-Borgese an die Arbeitsweise ihres Vaters Thomas Mann. In puritanischer Atmosphäre und immer hinter verschlossener Tür hatte Mann seine Werke gedichtet. In seinen Büchern beginnt das Verhältnis von Außen- und Innenorientierung allerdings zu kippen: zugunsten der Extrovertiertheit des lebensfrohen Bürgers in Abkehr von der Ich-Versunkenheit des einsamen Künstlers.

Einsame Entscheidungen

Das schöpferische Moment der Einsamkeit schätzen nicht nur Künstler, sondern auch die Entscheider dieser Welt. Hollywood kultiviert gern das Bild von einem US-Präsidenten, der die ultimative Entscheidung mit sich selbst in seinem Kämmerlein ausmacht. Inspiriert sind die Filmemacher dabei nicht zuletzt von großen religiösen Führern wie Jesus, Mohammed und Buddha, die erkannt hatten, dass die Abgeschiedenheit der Wüste oder einer Höhle für die innere Erkenntnis und die Wandlung des Menschen notwendig ist.

Auf diesen religiösen Spuren wandelte auch das Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Andechs. Dort wurden die Folgen von Einsamkeit in so genannten Isolationsexperimenten getestet: Freiwillige wurden für mehrere Wochen allein in ein Zimmer gesperrt, einziger Kontakt zur Außenwelt waren Briefe. Am Ende des Versuchs waren sowohl die Forscher als auch die Probanden hoch zufrieden: Ein Großteil der Teilnehmer wollte wiederkommen. Als besonders angenehm empfanden die Kurzzeiteinsiedler den Wegfall äußerer Reize. Zu viele Außenreize überfordern.

Diese Überforderung gilt als offensichtlicher Begleiteffekt der Modernisierung, denn schließlich begann im 20. Jahrhundert der Siegeszug der Geselligkeit. Die Menschen orientieren sich nicht mehr nach innen, sondern nach außen. Der innere Monolog wurde allmählich öffentlich – und die Einsamkeit immer verpönter. Dabei wissen Psychologen längst, dass das Allein-sein-Können eine notwendige Voraussetzung sowohl für Selbsterkenntnis als auch für die Selbstregulierung des seelischen Wachstums und der Kreativität sind. Trotzdem mag niemand das Stigma des Sonderlings tragen. Stattdessen flieht der Mensch davor, mit sich allein sein zu müssen. Er sucht Zuflucht in Freundeskreisen, Chat Communities oder Liebesbeziehungen. Oft nur, um hinterher festzustellen, dass sie dort mitunter einsamer sind, als sie es jemals zuvor waren. Die Angst davor, ausgeschlossen zu sein, ist nicht ungewöhnlich – und verständlich. Man sollte allerdings auch den Mut haben, mal einen Samstagabend allein zu verbringen. Selbst dann, wenn man sich damit das Image eines Eigenbrötlers erwirbt.

Der Mut jedoch sinkt: Besonders Jugendliche haben heute Schwierigkeiten damit, allein zu sein. Sobald das Handy eine Weile schweigt, fühlen sie sich ausgeschlossen von der Welt. Diese an Besessenheit grenzende Kontaktwut hat der amerikanische Zukunftsforscher und Kulturkritiker Jeremy Rifkin auf die Lebensformel „Ich bin verbunden, also existiere ich“ gebracht. Viele Menschen sind scheinbar nicht mehr in der Lage, sich selbst zu beschäftigen. In diesem Zuge wird auch der Begriff Freundschaft inflationärer verwandt und verkommt zu einem bloßen Werkzeug, um der Einsamkeit zu entkommen. Es wird geplappert, was das Zeug hält.

Geräusche gegen die Stille

Es geht nicht darum, sich auszutauschen, sondern einfach nur darum, die Luft zum Vibrieren zu bringen und ja keine peinliche Stille aufkommen zu lassen. Auch in TV-Observationsformaten wie „Big Brother“ oder dem „Dschungel-Camp“ lässt sich insbesondere eins erkennen: Es wird ständig kommuniziert, nicht selten vollkommen sinnfrei. Laberei eben. Die schönsten Momente solcher Sendungen sind die, wenn man einen Kandidaten oder eine Kandidatin beim Schweigen beobachten kann.

Ironischerweise sorgt gerade die beschleunigte Gesellschaft der Postmoderne dafür, dass der Wunsch nach einem Weltanhalten und Innehalten wächst. Klöster bekommen Anfragen von gestressten Managern, der Trend zu Single-Studienreisen nimmt zu – Konsequenz einer überdrehten Gesellschaft, in der man gezwungen ist, sich Nischen zu schaffen, um nicht vollkommen durchzudrehen oder abzustumpfen. Oder beides. Das bestätigte indirekt auch Heiko Ernst in einem Beitrag für Psychologie heute: „Viele Zeitkrankheiten – allen voran Depressionen und Hyperaktivität – entstehen, weil wir permanent von den Wünschen und Zumutungen der Mitmenschen umzingelt sind.“ Sich für eine Weile zurückzuziehen ist eben keine antisoziale Haltung, sondern ein notwendiger Ent-Forderungsakt des sozialen Wesens Mensch. In einem Gleichnis beschreibt Schopenhauer die verzweifelten Versuche von Stachelschweinen, der Kälte durch Nähe zu trotzen – was so lange an den Stacheln scheitert, bis die Tiere die richtige Balance aus Nähe und Distanz gefunden haben: „Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat, bleibt lieber aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerde zu geben noch zu empfangen.“