Vierter Fall von Misshandlung beim Bund

Auch in Nienburg an der Weser sollen Soldaten bei einer Wehrübung gefesselt worden sein. Staatsanwälte ermitteln wegen Freiheitsberaubung und Nötigung. Bundeswehrhistoriker Wolffsohn wirft Struck Verharmlosung von Folter vor

BERLIN/AUGSBURG taz ■ Bei den Misshandlungen von Bundeswehrsoldaten kann man seit gestern kaum noch von Einzelfällen sprechen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums, Norbert Bicher, gab zu: „Es gibt einen vierten Fall, wo Soldaten während einer nachgestellten Geiselnahme gefesselt worden sein sollen.“ Im niedersächsischen Nienburg an der Weser sollen – wie zuvor in Coesfeld, Ahlen und Kempten – Rekruten bei einer Wehrübung misshandelt worden sein.

Die Soldaten sollen während einer Übung Ende Oktober zwischen zwei feindlichen Gruppen räumlich abgesondert und an den Händen gefesselt worden sein, sagte der Sprecher der Streitkräftebasis in Köln, Günther Bender. Die Rekruten hätten sich anschließend bei ihren Vorgesetzten beschwert. Die Staatsanwaltschaft ermittele jetzt wegen Freiheitsberaubung und Nötigung. „Dem gehen wir nach“, kündigte Bicher an. Die Vorwürfe seien direkt an das Verteidigungsministerium gemeldet worden – und nicht wie bei den anderen Fällen an den Wehrbeauftragten des Bundestags.

Erst am vergangenen Wochenende war ein ähnlicher Fall aus dem bayerischen Kempten bekannt geworden. Ministeriumssprecher Bicher bestätigte die entsprechenden Medienberichte. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Vorermittlungen eingeleitet, sagte gestern der Chef der Kemptener Staatsanwaltschaft, Herbert Pollert, dazu. „Wir haben die Bundeswehr gebeten, uns die maßgeblichen Unterlagen zuzusenden“, so Pollert.

In Kempten sollen nach einem Nachtmarsch Rekruten mit verbundenen Augen in einen feuchten, kalten Keller gesperrt worden sein. „Eine entsprechende Beschwerde liegt dem Wehrbeauftragten der Bundeswehr vor“, bestätigte Bicher. Bundeswehrintern liefen seit Monaten Ermittlungen. Bereits im ersten Halbjahr 2004 sei die Beschwerde aus Kempten eingegangen.

Konkreter wollte der Ministeriumssprecher jedoch nicht werden. Sind die Rekruten tatsächlich nachts gefesselt in den Keller eingesperrt worden? „Das sind Einzelpunkte, die aus dieser Eingabe an den Wehrbeauftragten stammen.“ Eine Kemptener Sanitätssoldatin hatte die Beschwerde beim Wehrbeauftragten eingereicht, bestätigte dessen Sprecher Guido Large. Ihre Vorwürfe würden Parallelen zum Fall im nordrhein-westfälischen Coesfeld aufweisen. Dort sollen Soldaten mit Kabelbindern gefesselt und mit Stromstößen traktiert worden sein.

Beim Gebirgssanitätsregiment 42 in Kempten will niemand zu den Vorwürfen Stellung nehmen. „Wir haben einiges an Hektik“, sagte der Sprecher der Sanitätseinheit. Es sei zudem „von oben“ untersagt worden, Auskünfte zu geben. Die Rekrutin, die sich an den Wehrbeauftragten gewandt hat, ist inzwischen zu einer Einheit außerhalb Bayerns versetzt worden.

Der Historiker Michael Wolffsohn wirft indes Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) in der Welt vor, er verharmlose den „moralischen Niedergang der Bundeswehr“. Die Kritik an seinem Dienstherrn macht der Professor der Münchener Bundeswehrhochschule daran fest, dass immer weniger Soldaten „dem Bildungsbürgertum und bürgerlichen Mittel- oder Oberschichten“ entstammen. Daher fehle der Bundeswehr das „breite bürgerliche Fundament“, schreibt Wolffsohn.

Im Mai dieses Jahres machte Wolffsohn von sich reden, als er in einer Fernsehsendung Folter als legitimes Mittel im Kampf gegen den Terror erklärte. Daraufhin lud ihn Struck zu einem Gespräch ein. In seinem Aufsatz erinnert sich Wolffsohn nun, dass der Verteidigungsminister zu ihm gesagt habe: „Bitte glauben Sie mir. In der Bundeswehr wird nicht gefoltert. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer.“

SASCHA TEGTMEIER
KLAUS WITTMANN

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