: Im Südostflügel
VON DIETMAR BARTZ
Wieso eigentlich ist die EU-Mitgliedschaft der Ukraine so absurd, wie dies westliche Politiker seit dem Zusammenbruch der UdSSR behaupten? Auch ein Beitritt der Türkei schien vor zwanzig, ja noch vor zehn Jahren undenkbar, und dennoch ist er nun in Sichtweite. Wenn für beide Länder realistische Zeithorizonte gelten sollen, fällt der entscheidende Tag für die Türkei möglicherweise in das Jahr 2020, die Ukraine könnte 2030 reif für die EU sein.
Voraussetzungen sind in beiden Ländern die so genannten Kopenhagener Kriterien, deren Erfüllung eine ununterbrochene Reihe von Reformen erfordert: die Durchsetzung von Menschenrechten und Pressefreiheit, der Kampf gegen Korruption und Verbrechen, die Übernahme des EU-Rechts einschließlich seiner Wirtschaftsverfassung. Auch auf zwei, drei Jahrzehnte gesehen liegt hier eine gewaltige Aufgabe. Aber wenn die Türkei ihre Modernisierung schafft, kann dies auch in der Ukraine gelingen. Das türkische Experiment ist geradezu die Voraussetzung dafür, den Südostflügel des europäischen Hauses zu rekonstruieren.
Und so weit auseinander liegen die Ukraine und die Türkei gar nicht. Mit 50 und 70 Millionen EinwohnerInnen gehören beide Länder heute zu den demografischen Schwergewichten in Europa; wenn die Ukraine 2030 mit nur noch 45 Millionen Menschen beitritt, könnten in der Türkei doppelt so viele leben. Zwar ist die Türkei heute deutlich wohlhabender als die Ukraine. Im Durchschnitt beträgt das Pro-Kopf-Einkommen zwischen Edirne und Van 6.390 Dollar im Jahr, das zwischen Lemberg und Lugansk nur 4.870 Dollar. Aber als entwickelter darf die Ukraine dennoch gelten: Nach dem Human Development Index (siehe Tabelle unten) liegt die Ukraine in der Weltrangliste auf Platz 70, die Türkei deutlich dahinter auf Platz 88.
Das liegt an einigen denn doch segensreichen Folgen der sowjetischen Vergangenheit. Der Alphabetisierungsgrad der Erwachsenen in der Ukraine liegt bei über 99 Prozent, in der Türkei bei nur 86,5 Prozent (Männer 94,4, Frauen 78,5 Prozent). Die Bildungsausgaben, gemessen an der Wirtschaftskraft, erreichen in der Ukraine 4,2 Prozent des Haushalts, in der Türkei nur 3,7 Prozent; umgekehrt kommen die Rüstungsausgaben in der Türkei auf 4,9 Prozent, in der Ukraine auf nur 2,9 Prozent.
Die Frauen haben in der Ukraine mehr Chancen. Die weibliche Erwerbstätigkeit ist dort günstiger strukturiert als in der Türkei: Nördlich des Schwarzmeers arbeiten 17 Prozent in der Landwirtschaft, 22 Prozent in der Industrie und 55 Prozent im Dienstleistungssektor, südlich des Schwarzmeers sind noch immer 56 Prozent im Agrarsektor beschäftigt, nur 15 Prozent in der Industrie und nur 29 Prozent als Dienstleisterinnen. Während in beiden Ländern rund 5 Prozent der Abgeordneten weiblich sind, finden sich in Leitungsfunktionen in der Ukraine 38 Prozent Frauen, in der Türkei nur 7.
Zu guter Letzt – bei allen Vorbehalten gegenüber amtlichen Statistiken und trotz der außerordentlich schädlichen Wirkung der Oligarchen und anderer mafioser Organisationen – darf die ukrainische Gesellschaft sogar als sozial gerechter gelten als die türkische. Die ärmsten 10 Prozent der ukrainischen Bevölkerung verbrauchen 3,7 Prozent des Volkseinkommens, die reichsten 10 verbraten 23,2 Prozent. In der Türkei haben die Ärmsten nur 2,3 Prozent, die Reichsten hingegen 30,7 Prozent. Der Gini-Faktor – je niedriger, desto fairer ist die Einkommensverteilung – liegt für die Türkei bei 40,0 Punkten, für die Ukraine bei 29,0. Keinerlei Grund für deutsche Überheblichkeit: Hierzulande beträgt er 28,3.
Viel weniger Handys in Kiew
Solche Zahlen können nicht über einige maßgebliche Vorsprünge der Türkei hinwegtäuschen. Nicht nur bei der Kaufkraft, auch beim Wirtschaftswachstum, den Gesundheitsausgaben und der Lebenserwartung sowie beim technischen Fortschritt in Form von Telefonen, Handys und Internetanschlüssen liegt die Türkei vorn. Bei Handel und Wandel, in der heruntergekommenen Infrastruktur und den zerfallenen Institutionen hat die Ukraine gewaltige Aufgaben zu erledigen, um auch nur das türkische Niveau der Gegenwart zu erreichen.
Und dennoch haben die alten Hoffnungen und Selbstversicherungen aus der Zeit um 1990 auch hier ihre Berechtigung: Die Ukraine und ihre Menschen verfügen über enorme Potenziale. Jetzt kommt es auf Zivilgesellschaft und Regierung an. Wird der Drang nach Selbstbestimmung und Reformen nicht wieder von einem autoritären Regime und von den reichen Cliquen erstickt, könnte die Ukraine mit der Entwicklung der Türkei durchaus Schritt halten.
Auch strukturell weisen die beiden Länder viele Parallelen auf. Mit den Russen in der Ukraine und den Kurden in der Türkei verfügen beide über große Minderheiten im Osten, die es zu integrieren gilt. Beide Länder verfügen über kulturell sedimentierte Erfahrungen mit dem Verlust von Imperien. Im Fall der Ukraine liegen sie mit dem Ende der Sowjetunion erst zwölf Jahre zurück, in der Türkei mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg deutlich länger. Ihre Erfahrungen mit Massenmord und Vertreibung hat die Bevölkerung beider Länder gemacht. In der Ukraine gehört dazu die Vernichtung der bäuerlichen Kulaken und der „nationalen“ Intelligenz durch Stalin um 1930, die der Juden durch die Deutschen ab 1940 und die Aussiedlung der Ostpolen ab 1945. In der Türkei sind es der Völkermord an den Armeniern 1915, die wechselseitige Vertreibung der Griechen und Türken ab 1920 und die blutige Unterdrückung der Kurden bis in die allerjüngste Zeit. Als Historiker unabhängig zu bleiben erfordert in beiden Ländern noch auf lange Zeit viel Mut.
Beide Länder sind zudem seit den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts säkular verfasst, durch Stalin im Norden und Atatürk im Süden. In beiden spielt die Religion eine enorme Rolle, und in beiden basiert sie auf Glaubensspaltung: uniert gegen orthodox in der Ukraine, sunnitisch gegen alevitisch in der Türkei.
Dabei ist der alevitische Islam, dem etwa ein Fünftel der Türken anhängen, weltoffen und tolerant. Dies kann – jedenfalls im Vergleich mit der Orthodoxie – halbwegs auch für die Unierten gelten, die den Papst anerkennen; die Orthodoxen gehen auf die oströmische Kirche in Konstantinopel zurück, verfügen aber nicht mehr über ein gemeinsames Oberhaupt. Die Frage, wie demokratisch die orthodoxe Kirche überhaupt sein kann, wird dann wohl ebenso heftig und mit Ressentiments beladen diskutiert werden wie heutzutage die Frage, ob der Islam nach Europa gehört oder nicht. Der Orthodoxie, die fast immer mit den Machthabern paktiert hat, wird die Frage gestellt werden, in welchem Maße ihr Glaube die Herausbildung von Individualität und Selbstbestimmung zulässt – oder verhindert. Detail am Rande: 2030 könnten viele orthodoxe Patriarchen in der EU leben: die von Bulgarien und Serbien, der in Istanbul und der in Kiew.
Symbolhaft, dass sich der in Moskau draußen befände. Dass Russland unter Putin durch einen demokratischen Aufbruch in der Ukraine in den kommenden Jahren weiter marginalisiert wird, steht außer Zweifel. Vollkommen unklar ist derzeit hingegen, wie sich der wirtschaftliche, politische und kulturelle Zusammenhang mit den ostukrainischen Russen entwickelt.
Odessa, altes und neues Zentrum
Doch das Schwarze Meer, mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens bald ohnehin ein Anrainergewässer der EU, es könnte zu einem weitgehend „europäischen“ Meer werden: Mit der Türkei kommt die gesamte Südküste dazu, die Ukraine steuert den Norden bei. Der nordöstliche Abschnitt bleibt russisch, aber geopolitisch rückt das demokratische Georgien doch näher an Europa heran. Dann steigt im Westen hoffentlich auch das Interesse an den von Despotie und Kriegen erschütterten Kaukasusrepubliken Armenien und Aserbaidschan. In Moldawien schließlich, dem kleinen, unglücklichen Land am Dnjepr, kann die Bevölkerung das Ende ihrer Poststalinisten in Transnistrien auf die Tagesordnung setzen und das Land wiedervereinigen. Europa bekommt seinen Südosten zurück. Die alte Handelsstadt Odessa wird zu seiner neuen Kapitale und findet im georgischen Tiflis und im türkischen Istanbul seine Antipoden.
Natürlich geht es hier auch um Absatzmärkte und Billiglohnstandorte. Wer in solchen Überlegungen Analogien zu historischen deutschen Hegemonialkonzepten für Südosteuropa erblickt, möge bedenken, dass deren Voraussetzungen längst entfallen sind. Die Aufwendungen des Nettozahlers Deutschlands für eine Vollmitgliedschaft der Ukraine wären suboptimal, wenn es allein um Weizen ginge. Und die „Pipeline Politics“ rund um das Kaukasus- und das kaspische Öl wird dann von der chinesischen Nachfrage bestimmt, nicht von der westeuropäischen. China wird der wichtigste Ostnachbar der EU sein, nicht mehr Russland.
Wenn es schlecht läuft mit dem demokratischen Aufstand, wird in 14 Tagen niemand mehr darüber spekulieren, ob das große Experiment Türkei zum Vorbild für die Ukraine taugt. Wenn aber die Poststalinisten tatsächlich aus Kiew und Donezk verjagt werden, könnten in 14 Jahren die Gespräche über die Aufnahme der Ukraine durchaus auf der Tagesordnung der EU stehen.