in fußballland : Die fragwürdige Schönheit des Fallrückziehers an der Mittellinie
CHRISTOPH BIERMANN über die vielfältigen Möglichkeiten, die Qualität eines Fußballspiels zu bewerten
Christoph Biermann, 42, liebt Fußball und schreibt darüber
Ein wenig verblüfft war ich schon, als nach dem torlosen Remis zwischen dem VfL Bochum und dem VfB Stuttgart vor zwei Wochen die Meinungen so weit auseinander gingen. Ich hatte ein hochkonzentriertes, taktisch großartiges Spiel gesehen und darüber gestaunt, dass die Mannschaft von Peter Neururer zu einer Leistung auf solch hohem Niveau in der Lage war. Als ich jedoch anschließend die Berichte im Fernsehen sah und am Montag die Kommentare in den Zeitungen las, war ich überrascht, denn viele konstatierten nur Schalheit und Langeweile.
Hatte ich so daneben gelegen, oder hatten es die Kollegen? Hatte ich mich verlaufen? Oder hatten sie die Textur dieser Partie nicht zu lesen vermocht? Darauf könnte man sich mit der Behauptung von Expertenschaft selbstverständlich zurückziehen, aber die Diskrepanzen bei der Bewertung müssen wohl anders erklärt werden. Oder um es auf eine einfache Frage zu bringen: Liest man in einem Spiel nicht zuvorderst das, was sich einem vorher schon eingeschrieben hat?
Es scheint so. Bereits vor gut 15 Jahren lieferte der französische Ethnologe Christian Bromberger dazu einen interessanten Beleg. Er untersuchte damals, welche Spieler von welchen Teilen des Publikums bei Olympique Marseille besonders geschätzt wurden. Das Idol der Fankurve war der spektakuläre kamerunische Torwart Joseph Antoine Bell, besondere Wertschätzung der Haupttribüne genoss der einfallsreiche Mittelfeldlenker Alain Giresse, während sich das Publikum auf der Gegentribüne mehrheitlich auf den nüchtern sachlichen Mannschaftskapitän Jacky Bonnevay als ihren Liebling verständigte.
Die unterschiedlichen Bereiche im Stadion waren laut Bromberger relativ deutlich bestimmten Milieus zuzuordnen. Jede dieser Gruppen identifizierte sich mit einem Spieler, der einen Stil personifizierte, der mit ihrem Lebensentwurf in direkten Zusammenhang zu setzen war. Für die kleinen Handwerker und Selbstständigen auf der Gegentribüne war es der fleißige und ernsthafte Bonnevay, für die Unternehmer oder Geschäftsleute der Mittel- und Oberschicht war es der kreative Anführer Giresse, und die jungen, proletarischen Fans in der Kurve sahen in Bells Kapriolen ihre Sehnsüchte nach Wildheit und Chuzpe erfüllt.
Da jeder dieser Spieler nicht nur einen persönlichen Stil repräsentierte, sondern auch einen Fußballstil überhaupt, kann man diese Vorlieben für eine bestimmte Spielweise problemlos auch auf das Spiel allgemein übertragen. Das kennen wir schon lange auch als regionale oder auch internationale Zuordnungen, nach der etwa in Schottland, dem Ruhrgebiet oder Rotterdam vor allem gekämpft werden muss, während in Amsterdam, im Süden Deutschlands oder in Spanien eher gepflegter Fußball goutiert wird. Das wiederum hat mit der sozialen Zusammensetzung des Publikums und mit fußballerischen Traditionen zu tun. Nie werde ich etwa das Publikum bei einem Fußballspiel in der senegalesischen Hauptstadt Dakar vergessen, das einen Fallrückzieher an der Mittellinie enthusiastisch feierte, der nach unseren Vorstellungen grober Unsinn war.
Bei besagtem Spiel in Bochum war ich der Logik auf dem Rasen gefolgt, die eine der Defensive war. Aus meiner Sicht hatten die Teams sehr gelungen nach italienischem Vorbild die Kunst des Verteidigens zelebriert. Man konnte jedoch genauso beklagen, dass es wenig Torchancen, kein Tor und mithin keinen Sieger gegeben hatte. Man kann überhaupt fordern, dass Fußball ein actiongeladenes Spektakel ist, ein Fest der Körper und keines der Kalkulation und Konzentration, das gemeinhin „Rasenschach“ genannt wird, weil es dabei um eine bestimmte Form des Denkens geht. Fußball lässt beide Wege offen, und welchen man bevorzugt, hat mehr mit einem selber zu tun als mit einer Wahrheit, wie das Spiel zu lesen ist.
Ich lasse mich jedoch bei all diesen Relativierungen nicht davon abbringen, dass je kühler der Kopf, umso wahrscheinlicher ist, im Spitzenfußball erfolgreich zu sein. Mit wilder Hingabe allein ist alles schneller vorbei – ob es einem gefällt oder nicht.