: Ein Dokument des Grauens
AUS BUENOS AIRES INGO MALCHER
Der 20. Oktober 1973 ist der Tag, nach dem im Leben der Frau nichts mehr so sein sollte, wie es einmal war. Es ist der Tag, über den sie heute sagt: „Seit 1973 sind wir nie wieder glücklich geworden.“ Am 20. Oktober 1973, eineinhalb Wochen nach dem Militärputsch in Chile, stürmen Polizisten und Soldaten das Haus ihrer Familie. Sie schlagen ihre 15- und 16-jährigen Brüder nieder und brüllen, die beiden wären bei dem Überfall auf eine Polizeisperre in der Stadt Valdivia beteiligt gewesen. Ihr Beweis: Die Nachnahmen der vermeintlichen Rebellen und die der beiden Jungen stimmten überein, wenn auch nur die beiden Nachnamen väterlicherseits. Als die Frau die prügelnden Soldaten auf den Irrtum hinwies, wird sie ignoriert. Die beiden Jungen werden verschleppt. Nach drei Tagen Suche findet die Familie die beiden im Leichenschauhaus. Beide sind ermordet worden. Einem von beiden fehlte ein Teil des Gesichts, sein Mund wurde mit Pferdekot, Fischgräten und Zigarettenstummeln voll gestopft.
Die Frau fährt sofort in die Hauptstadt Santiago, um den brutalen Mord anzuzeigen. Doch sie wird nicht als Zeugin vernommen, sondern von den Militärs verhaftet und gefoltert. Als sie nach sechs Monaten Haft wieder freikommt, ist ihr Körper übersäht mit Schnittwunden, beide Knöchel sind gebrochen. Die Frau flüchtet ins Exil.
Die Aussage der Frau ist in dem seit Montag öffentlichen Abschlussbericht der Nationalen Kommission über politische Haft und Folter in Chile dokumentiert. Wie alle Zeugenaussagen bleibt auch die Schilderung der Frau anonym. Sie ist eine der 35.865 Chilenen, die sich gemeldet haben, als Präsident Ricardo Lagos vor einem Jahr ankündigte, eine Kommission einzusetzen, welche Folter und politische Haft während der Militärdiktatur (1973–1990) untersuchen sollte. Herausgekommen ist ein Handbuch menschlicher Grausamkeiten. Auf 646 Seiten dokumentiert die Kommission die Foltermethoden und Folterstätten und listet unzählige Zeugenaussagen auf. Als Lagos vergangenen Sonntag ankündigte, Folteropfer und politische Gefangene zu entschädigen, sagte er, der Bericht diene dazu, „nie wieder so etwas zu erleben, nie wieder so etwas zu negieren“.
Mit viel Geduld arbeitet Lagos daran, in Chile eine Epoche zu Grabe zu tragen. Die Militärdiktatur hinterließ unantastbare Militärs und ungesühnte Verbrechen. Lagos betreibt in Chile Vergangenheitsbewältigung in kleinen Schritten, und zwar sowohl historisch als auch juristisch. Doch auch er muss Rücksicht nehmen auf die noch immer sehr mächtigen Militärs. Zu viel Rücksicht. Längst nicht alle Folterknechte des Landes müssen den Richter fürchten. Trotzdem verändert sich in Chile die gesellschaftliche Stimmung. Augusto Pinochet, 17 Jahre lang eiserner Diktator, war noch bis vor kurzem unantastbarer Säulenheiliger der chilenischen Rechten. Heute hat er nur noch in den reaktionären Militärkreisen und in der anachronistischen Rechten Rückhalt.
Der greise Diktator schimpft im privaten Kreis über Lagos, der ihn politisch zur Strecke brachte. Der Name Pinochet ist heute nicht mehr automatisch Synonym für Retter vor dem Kommunismus, als den er sich sieht, als er am 11. September 1973 den Sozialisten Salvador Allende aus dem Amt putschte. Heute fällt der Name Pinochet immer mehr in Verbindung mit Entführung, Folter und Mord.
Unter Pinochets Regime wurden in Chile über 3.000 Menschen von den Sicherheitskräften ermordet. Seit der Veröffentlichung des Kommissionsberichts über Folter und politische Haft kennt man nun auch die Zahl der politischen Gefangenen: Von den 35.865 Befragten wurden annähernd 28.000 von der Kommission als politische Gefangene anerkannt, 94 Prozent davon wurden Opfer von Folter. Fast alle gefangenen Frauen wurden in der Haft vergewaltigt. „Dies erlaubt zu schlussfolgern“, heißt es in dem Bericht, „dass die politische Haft und die Folter eine Staatspolitik seitens des Militärregimes darstellten, die durch die politischen Autoritäten dieser Epoche definiert und eingeführt wurden. Zur Umsetzung und Durchsetzung mobilisierten sie Personal und Ressourcen verschiedener öffentlicher Einrichtungen, sie verabschiedeten Gesetze und Dekrete, die diese repressiven Praktiken ermöglichten.“
Gerade in den ersten Monaten nach dem Putsch lief die Repressionsmaschine auf Hochtouren. Von September bis Dezember 1973 macht die Kommission die erste Repressionswelle aus. 64,4 Prozent aller Aussagen der interviewten Opfer beziehen sich auf diesen Zeitraum. 18.364 Personen wurden in diesen Tagen festgenommen, die meisten davon Regierungsbeamte der linken „Unidad Popular“, die soeben von Pinochet aus dem Amt geputscht worden war. Mehr als 5.000 von ihnen wurden zwischen dem 11. September, dem Tag des Putsches, und dem 13. September festgenommen.
Schon ab dem ersten Tag war die Folter Teil des repressiven Systems der Militärs. Ziel war dabei zuallererst die Informationsgewinnung. Die Folterer wollten Namen von linken Aktivisten und deren Verstecke oder Treffpunkte aus ihren Opfern herauspressen. Aber als sich in den Jahren nach 1980 in der Bevölkerung zunehmend Unzufriedenheit breit macht und in den ärmeren Vierteln von Santiago immer wieder Barrikaden gebaut werden, wird die Folter, so der Bericht, auch zum bloßen Terrorinstrument, „um jeden Widerstand zu ersticken“.
Die chilenischen Militärs haben in ihrer sadistischen Fantasie keine Grenzen gekannt. Prügel und Fußtritte gab es bei fast allen Festnahmen. In den Gefangenenlagern waren die Festgenommenen ihren Folterern ausgeliefert. Sie wurden an den Handgelenken aufgehängt, manchmal sogar mehrere Tage lang. Elektroschocks wurden ihnen auf Metallstühlen oder einem Drahtrost zugefügt. Scheinhinrichtungen standen auf der Tagesordnung. Frauen wurden systematisch vergewaltigt. Gefangene mussten Kot essen und Urin trinken.
Eine im Januar 1974 festgenommene Frau berichtet von ihrer Haftzeit in der Straße Londres 38 in Santiago: „Ich wurde in ein anderes Zimmer gebracht, wo ich mich ausziehen musste. Danach banden sie mir die Handgelenke mit den Fußgelenken zusammen, ich war vollkommen unbeweglich. Danach schoben sie eine Stange zwischen meine Hand- und Fußgelenke und hingen mich an einem Möbelstück auf. In dieser Position schlugen sie mir auf die Ohren und sie verpassten mir Elektroschocks an den Schläfen, an den Augen, in der Scheide, am Bauch und an den Brüsten. Sie verhörten mich, wollten die Namen von Personen wissen: Ich sagte ihnen, dass ich die Personen nicht kennen würde, daraufhin wurde ich wieder geschlagen und bekam wieder Stromschläge. In den Mund hatten sie mir ein Tuch gesteckt, das sie mir immer wieder rausnahmen, damit ich sprechen konnte.“
Für solche Qualen hatte das chilenische Militär eine perfekte Infrastruktur geschaffen. Die Kommission zählt in ihrem Bericht 1.132 Gefangenen- und Folterlager auf. Die Häftlinge wurden von den Sicherheitskräften dorthin verschleppt, wo gerade Platz war. Gefoltert wurde in den Kasernen der Luftwaffe, auf Polizeistationen, auf Schiffen der Marine und in Stadien. Die Haftbedingungen waren äußerst prekär. Bis 1975 mussten die meisten Inhaftierten ohne Matratze und Decke auf dem Fußboden schlafen. Es gab nur wenig und oft ungenießbares Essen.
So ist kein Wunder, dass die Opfer heute noch an der Haftzeit und der Folter leiden. Von einem normalen Leben können die meisten nur träumen. Viele tragen bis heute die Spuren der Folter am Körper. Die Verletzungen reichen von Narben, zertrümmerten Gelenken bis zu psychischen Krankheiten, sexuellen Problemen und Schwierigkeiten beim Umgang mit anderen Menschen. In den Familien gibt es nicht selten massive Probleme.
Die von Präsident Lagos vorgeschlagene Entschädigung, nach der alle politischen Gefangenen lebenslang eine Pension von 180 Dollar erhalten sollen, kann die Folgen der Folter nicht wieder gutmachen. Menschenrechtsgruppen kritisierten am Montag auch das mit 180 Dollar geringe Angebot des Präsidenten.
Die behutsame Vergangenheitsbewältigung des Präsidenten hat noch einen weiteren Haken. Die Originalaussagen bleiben unter Verschluss. Nicht nur die Opfer sind in dem Bericht anonym, auch die Täter. Erst in 50 Jahren sind die Originalprotokolle einsehbar. Das verhindert eine juristische Aufarbeitung. Ärzte, Polizisten und Militärs, die von Opfern der Folter beschuldigt werden, bleiben unbehelligt und können weiterhin ein ruhiges Leben führen. Selbst die interviewten Opfer müssten vor Gericht klagen, wenn sie ihre Aussage öffentlich machen wollten. So werden zwar Grausamkeiten dokumentiert, ihre Verantwortlichen aber weiterhin geschützt.
Dennoch kann der Bericht einiges bewegen. Die 646 Seiten sind ein minutiöser Report über das Wesen der Militärdiktatur. Nach der Lektüre des Dokuments des Grauens war auch Präsident Lagos zunächst sprachlos. „Wie können wir solch einen Horror erklären?“, fragte er. Dann sagte er: „Ich habe keine Antwort.“