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Archiv-Artikel

Frag doch Frau ... wie heißt sie nochmal?

Auch so kann eine Wohngemeinschaft aussehen: Im Hamburger „Haus am Kanal“ leben alte Menschen zusammen, die an Demenz leiden. Das geht nicht ohne Engagement der Angehörigen, ist aber für beide Seiten von Vorteil

Frau Petzold lässt sich nichtbeirrenund lächelt weiterhin versonnen in sich hinein

Aus HamburgDoro Wiese

Der 70jährige Wilfried Schmitt* steht hilflos vor dem Regal. „Ich finde es nicht!“, teilt er der gleichaltrigen Gertrud Petzold mit, die aufmerksam seine Suche verfolgt. „Das muss doch irgendwo sein, dieses ... na, wie sagt man, dieses ...“

Herr Schmitt bricht ab und schaut sich um. „Wo ist denn ...?“, fragt er mit nervösen Unterton. „Wo ist denn…?“, wiederholt er, und diesmal droht sich seine Stimme zu überschlagen.

Gertrud Petzold wirkt beruhigend auf ihn ein. „Frag doch Frau…“, setzt die zierliche, gepflegte Frau an. Aber dann ist ihr selbst der Name der Pflegerin entfallen. „Ach, du weißt doch schon, da vorne ist sie ja!“

Die gesuchte Person, die Altenpflegerin Helga Bauer, betreut seit Anfang des Jahres Demenzkranke im Hamburger „Haus am Kanal“. Demenzkranke sind zumeist ältere Menschen, deren Gedächtnis, Sprach- und Denkvermögen sich manchmal so weit verschlechtert, dass ein eigenständiges Leben nicht mehr möglich ist. Mit dem „Haus am Kanal“ folgt Hamburg sehr verspätet einem Trend, der 1995 vom Verein „Freunde alter Menschen“ eingeleitet wurde, der damals die erste so genannte Dementenwohngemeinschaft in Berlin einrichtete.

Seit Januar dieses Jahres gibt ein solches Projekt auch in Hamburg, seitdem wohnen sieben Demenzerkrankte im „Haus am Kanal“ – aus freien Stücken, und mit Unterstützung ihrer Angehörigen. „Meine Schwiegermutter ist jetzt 93 Jahre alt“, sagt Renate Gottfried. „In den letzten drei Jahren ist sie ambulant versorgt worden, dreimal am Tag kam der Pflegedienst.“

Doch die Demenz machte sich immer stärker bemerkbar, die alte Frau war nicht mehr in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Sie fiel in der eigenen Wohnung, sie konnte keine Treppen mehr steigen, vereinsamte. Das war der Punkt, an dem Renate Gottfried und ihr Mann beschlossen, die alte Dame im „Haus am Kanal“ unterzubringen. „Für uns war das die einzige Alternative“, sagt Renate Gottfried.

In den Dementen-Stationen der klassischen Pflege- und Altenheime haben die Angehörigen oft nur sehr wenig Einfluss darauf, was mit den BewohnerInnen passiert. Nicht so im „Haus am Kanal“. Dort nämlich suchen sich die Angehörigen den Pflegedienst selbst aus – und arbeiten mit. Sie machen Ausflüge mit den BewohnerInnen, sie veranstalten Backtage und Spielabende. „Ich investiere jetzt viel mehr Zeit als vorher, als unsere Mütter alleine lebten“, sagt Renate Gottfried.

Trotzdem empfinden die meisten Angehörigen die Wohngemeinschaft als eine Entlastung. „Vorher war man den ganzen Tag lang fort, weil man gearbeitet hat, und währenddessen wusste keiner, was mit meiner Mutter Frederike los ist“, sagt Felix Schwarzenbach. „Und dabei hatte man immer im Hinterkopf: Wir wissen, dass was passieren kann, dass sie unkontrolliert handelt. Das war eine starke Belastung.“

Im „Haus am Kanal“ werden die Bewohner rund um die Uhr betreut, und manchmal kann man richtig zusehen, wie sie wieder aufleben. Die Mutter von Felix Schwarzenbach hatte zuvor sehr isoliert gelebt, sie hatte Angst, spürte, dass sie krank war. „Seit sie in der Wohngemeinschaft lebt, bricht sie wieder auf“, sagt Schwarzenbach. „Wenn man sie anspricht: ‚Mensch, du döst ja! Möchtest du dich nicht hinlegen?‘, antwortet sie: ‚Nein, ich möchte nicht.‘“

Das Pflegepersonal hilft den BewohnerInnen, sich ihren Interessen und ihrem Können entsprechend am Tagesablauf zu beteiligen. „Ständige Hilfe ist nicht so liebevoll, weil die vorhandenen Fähigkeiten nicht genutzt werden und die Leute so hilfloser werden“, sagt die Altenpflegerin Helga Bauer. Daher werden die BewohnerInnen angeleitet, sich beim Kochen oder Abwaschen zu beteiligen. In vielen Situationen sei es wichtig, taktvoll mit den Defiziten umzugehen, meint Bauer: „Herr Schmitt wollte beispielsweise heute morgen bei der Frühstückszubereitung helfen und wusste dann nicht mehr, wie man Brötchen auf zwei Körbe verteilt. Da muss man dann behutsam mit ihm umgehen, es vorsichtig zeigen.“

Viele Demenzerkrankte wissen um ihre Vergesslichkeit, und das löst Trauer aus oder Aggressionen, manchmal auch Resignation. „Manchmal isst Frau Petzold nichts und man fragt sich warum, bis man merkt, dass sie einfach nicht weiß, wie man das Brot schmiert“, sagt Bauer.

Ein anderes Problem ist das unterschiedliche Stadium der Erkrankung. Elfriede zum Beispiel ist eine sehr dominante Persönlichkeit, die noch viel mitbekommt und dazu neigt, ständig das Verhalten der anderen zu kommentieren. „Nicht mit dem Messer umrühren, was ist denn das für ein Benehmen!“, weist sie dann etwa ihre Mitbewohnerin Gisela zurecht, die dann sehr verunsichert ist, weil sie zwar merkt, dass etwas schief gelaufen ist, aber nicht weiß, wie sie das ändern kann.

Die Begleitung durch das Pflegepersonal ist darum ungemein wichtig. Auch Wilfried Schmitt, der manchmal hilflos vor den Küchenregalen steht, kann drohende Ohnmachtgefühle abwenden, wenn ihm die Pflegerin zur Seite steht.

„Suchen Sie den Topf?“ fragt sie, tritt neben ihn und befördert den gesuchten Gegenstand aus dem Regal. Wilfried Schmitt strahlt. „Ja, da ist er ja!“, ruft er aus und wendet sich zufrieden wieder den Karotten zu, die er gerade schrappt. Gertrud Petzold schält währenddessen fingerdick die Schale von den Kartoffeln.

„Nicht so!“, versucht Herr Schmitt sie zu korrigieren. „Nicht so groß!“ Aber Frau Petzold lässt sich nicht beirren und lächelt weiterhin versonnen in sich hinein.

Für sie ist Herr Schmitt „tüddelig, aber so lieb!“, und die kleine sich zwischen ihnen anbahnende Romanze „nur ein bisschen hin und her“. Das sieht Elfriede Sonntag allerdings anders, die mit Eifersucht auf die beiden reagiert und kleine, bissige Bemerkungen im Kochgeschehen verankert. „Das geht doch so nicht!“, sagt sie, und schüttelt missmutig den Kopf, die klein geschälten Kartoffeln betrachtend.

Auf ihr neues Heim angesprochen, beginnt ihr Gesicht jedoch zu leuchten. Einzig wie lange sie hier schon wohnt, das weiß sie wirklich nicht mehr: „Das ist Teil meiner Krankheit!“, sagt sie. Doch sie hat schon Abhilfe parat: „Aber meine Tochter, die weiß das. Wenn Sie die mal treffen, die können Sie das alles fragen.“

* alle Namen von der Redaktion geändert