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Archiv-Artikel

Alles im Fisch

NIEDERLANDE Die Urker sind eine verschworene Gemeinschaft: gegen die EU und ihre Fischereiquoten, gegen die EU und ihre gottlose Verfassung. Sie sind Calvinisten und recht eigensinnig

Urk

 Geschichte: Urk ist eine ehemalige Insel an der heutigen Ijsselmeerküste. Im Jahr 1939 wurde es durch einen Deich mit dem Festland verbunden, 1942 durch Trockenlegung der Zuiderzee Bestandteil der Küste. Es hat ca. 18.000 Einwohner und die höchste Geburtenrate der Niederlande.

■ Fischerei: Sie bildet die Lebensgrundlage Urks. Der Fischbestand ging durch die Einpolderung stark zurück, viele Urker Fischer zog es ganz an die Nordsee. Seit 1905 wird auf Urk auch Fisch umgeschlagen. Im Jahr 1962 kam eine gesonderte Auktion für Nordseefisch hinzu, heute die größte der Niederlande. Offiziell sind rund 2.000 der 18.000 Bewohner auf den Schiffen und in den etwa 100 fischverarbeitenden Betrieben Urks beschäftigt.

■ EU: Durch die Fischereiquoten der Europäischen Union, die aus Nachhaltigkeitsgründen Fangvolumen und -saison nach Sorten regulieren, steckt der Sektor erneut in einem Wandel. Da die Urker Flotte sehr groß ist, fahren viele Schiffe unter ausländischer Flagge. Andere Fischer sind in den Gütertransport gewechselt. Die EU erfreut sich hier rekordverdächtiger Unbeliebtheit. T.M.

AUS URK TOBIAS MÜLLER

„Der Kern der Reformierten Kirche?“ Der Pfarrer legt kurz die Stirn in Falten. Dann klart sich seine Miene auf. „Die Bibel ist für uns das Wort Gottes. Und das Evangelium kommt von seinem Sohn Jesus Christus.“ Der Bibel nach waren Jesus und seine Anhänger Fischer, und vielleicht hat man das auf Urk wörtlich genommen und das Buch, das schon immer das Leben hier draußen bestimmt hat, wurde damit zur Grundlage einer Monokultur, die heutzutage in Europa ihresgleichen sucht. Die Geografie kommt natürlich hinzu, ein kleiner Flecken Land, jahrhundertelang umgeben von der Zuiderzee, jenem Ausläufer der Nordsee, der sich tief in den westlichen oberen Rand der Niederlande zu fressen schien, bis man ihn 1932 eindeichte und damit das Binnengewässer schuf, das seither als Ijsselmeer bekannt ist.

Der Fisch jedenfalls ist überall auf Urk. Silbern auf blauem Grund im Wappen, als Modellkutter auf den penibel gestalteten Fensterbänken der Backsteinhäuser und in den goldenen Ringen, die in den Ohren vieler Männer baumeln und einst als Begräbnisversicherung galten. „Velen in Zee gebleven“ (Viele sind dem Meer zum Opfer gefallen) steht oben im Alten Dorf auf dem Denkmal für die Fischer. Die Gedenktafeln daneben enthalten die Namen von Männern, Jugendlichen und selbst Zehnjährigen. „Das gefahrenvolle Leben auf See hat den Urker Volkscharakter geprägt“, heißt es weiter. Genau für diesen ist die Insel, die seit der Einpolderung der Umgebung 1942 eigentlich gar keine mehr ist, in den Niederlanden berüchtigt. Eine verschworene Gemeinschaft, eigensinnig und aufsässig. Man wohnt hier immer noch „auf“ Urk. Und Taeke Veenstra, seit mehr als zwanzig Jahren Pfarrer in der Bethelkerk, der größten Kirche am Ort, nennt sich immer noch einen Fremden. „Daran wird sich auch nichts ändern. Weil ich nicht von hier bin. Und weil die Menschen immer zu mir aufschauen. Sie haben so viel Respekt vor dem Pfarrer, dass sie auf Abstand bleiben.“

Fischerei, Kirche, Familie – auf diese drei Pfeiler baut das Leben der rund 18.000 Urker bis heute. Dabei ist man sich untereinander keineswegs einig. Die zehn Kirchen erzählen die Geschichte des niederländischen Protestantismus nach. Und die ist eine der Abspaltungen, wie Pfarrer Veenstra bedauernd zugibt. Ein Wettrennen der reinen Lehren, Erneuerungswellen und Säuberungsbewegungen. „Es ist zum Heulen. Das hat der große Gott nicht gewollt.“ Doch seine Schäfchen nehmen die Sache sehr ernst. Der sonntägliche Kirchgang ist ein ungeschriebenes Gesetz, konfessionelle Mischehen sind ein Problem. „Pfarrer“, sagen die Leute zu Veenstra, „wir können über alles reden, aber nicht über den Glauben, dann gibt es Spannungen“.

In Notsituationen allerdings verschwinden die Gräben. Habe eine Familie einen Toten zu beklagen, spiele es keine Rolle, zu welcher Kirche man gehöre, berichtet der Pfarrer. Ein Ruck scheint dann durch die Menschen zu gehen und lässt sie instinktiv die Reihen schließen, wenn sie sich einer Bedrohung gegenübersehen, die größer ist als sie selbst. Dem Tod. Dem Meer. Dem Frauenpriestertum, das die Reformierte Kirche in den Niederlanden außer in einer Handvoll Gemeinden längst eingeführt hat. Oder Europa, zumindest wenn Gott nicht in seiner Verfassung auftaucht und dort stattdessen von verschiedenen Religionen die Rede ist. Und schon gar nicht, wenn sich die Bürokraten im fernen Brüssel darum kümmern, wann die Urker wie viel von welchem Fisch fangen. Wenn es nach Pfarrer Veenstra geht, stand der Fisch sogar im Vordergrund, als Urk, im ganzen Land belächelt für sein anachronistisches Frömmeln, seinerseits zum Leitbild der Niederlande wurde. Vier Jahre ist es her, dass das ehemalige EU-Musterland die geplante Verfassung ablehnte, mit durchschnittlich 61,5 Prozent. In Urk waren es mehr als 90 Prozent.

Urk ist eines der großen Fischereizentren. In jeder Familie arbeitet jemand im Fisch

Alie de Vreugd hat damals plakatiert. Eine Frau in der Politik, das ist außergewöhnlich in Urk. Noch dazu ist die 48-Jährige nicht bei einer der vier konfessionellen Parteien, die den Gemeinderat unter sich ausmachen und von denen die Christdemokraten noch die liberalsten sind. Die gelernte Floristin bildete über Jahre hinweg die einsame Avantgarde der Socialistische Partij (SP). Erst wählte sie die ehemaligen Maoisten, nach den ersten Erfolgen in den 1990ern wurde sie gar Mitglied. Keine einfache Sache in einer Umgebung, in der sogar heimliche SP-Sympathisanten aus Gewohnheit ihr Kreuz bei der SGP (Staatskundig Gereformeerde Partij) machen. Theokraten, die einen Gottesstaat anstreben, das passive Wahlrecht für Frauen ablehnen und deswegen latent am Rande eines Verbots balancieren. An Alie de Vreugds Hals hängt ein kleines goldenes Kreuz. „Ich bin Christin und Sozialistin. Das passt prima zusammen.“ Und humorlos ist sie auch nicht. „Ich habe die SP-Poster immer direkt neben die der SGP geklebt. Ist ja nur ein Unterschied von einem Buchstaben. Und ich habe tagsüber plakatiert, ich schäme mich doch nicht! Einen Tag später war alles wieder abgerissen.“

Einig sind sich Alie und die SGPler bis heute in Bezug auf die EU: „Natürlich habe ich ‚Nee‘ gestimmt! Ich würde es wieder tun und der Rest der Menschen hier auch. Wir haben nichts zu sagen bei Entscheidungen der EU. Umgekehrt haben diese auf nationaler Ebene ungeheuren Einfluss. Die Folgen für die Fischerei hier sind immens. Dazu kommen die Inselmentalität und der Urker Freiheitsdrang.“

Um die Dimensionen zu verdeutlichen, bittet Alie de Vreugd zum Ortstermin im Industriegebiet. Hinter dem Deich breiten sich Zulieferbetriebe und Fischverarbeitung aus, Speditionen, Filetproduktion, Räucheranlagen für Lachs und Aal. „Es ist eine gigantische Industrie hier. Urk ist einer der größten Fischereizentren Europas. Jeder hat irgendetwas damit zu tun, in jeder Familie arbeitet jemand im Fisch.“ Die Quoten aus Brüssel legen diese Monokultur in Schranken. Die Fangquoten bestimmen auch die Größe der Flotten. Viele Kutter sind daher verkauft worden oder fahren unter ausländischer Flagge. Zudem ist in Urk in wenigen Jahren eine beachtliche Flotte von Schlepp- und Schubschiffen entstanden. Binnenschifffahrt als Rettungsanker für Fischer auf dem Trockenen? Wieder lacht Alie de Vreugd. „In den ganzen Niederlanden, in Deutschland, in Belgien: Überall, wo Meere, Flüsse oder Seen sind, fahren Urker herum.“

Der Kirchgang ist ein ungeschriebenes Gesetz, dafür sorgt die soziale Kontrolle

Auf dem Ijsselmeer sind das nur noch acht Fischkutter. Acht von 80, rechnet Meneer Van Veen vor, der früher auch zur Flotte zählte. Zusammen mit den anderen Fischern und Händlern sieht er zu, wie der Hafenmeister den Inhalt der runden weißen Bottiche wiegt. Mit fachmännischem Blick prüft Van Veen die Aale, die darin zappeln. Greift einen heraus, nickt, lässt ihn zurückgleiten. Noch immer findet unten im Hafen mittags die Ijsselmeerfischauktion statt, noch immer kommen Boote bis aus Friesland, um hier ihren Fang loszuwerden. Doch die Zeiten, klagt Einkäufer Van Veen, sind hart. Die Quoten drängen Fischer vom Markt, und die Wirtschaftskrise lasse das Preissystem zusammenbrechen. Die Einkünfte könnten die Kosten kaum noch auffangen.

Meneer Van Veen ist seit 35 Jahren im Geschäft. Als er ein Kind war, kämpfte die Fischerei mit den Folgen der Eindeichung. Auch so eine Entscheidung von oben, zu der die Bewohner nicht gefragt wurden. Zum Glück, sagt Van Veen, gaben Urker nicht so schnell auf. Auch damals sei der Fischfang auf der Insel für tot erklärt worden. „Doch was haben wir gemacht? Wir wurden die größte Flotte des Landes, mit 150 Nordseekuttern und 80 auf dem Ijsselmeer.“

„320 Pfund“, verkündet der Hafenmeister den heutigen Fang, ein Durchschnittstag, der Winter war lang, das Wasser ist noch kalt, und die Aalsaison hat eben erst begonnen. Van Veen erzählt vom Fischerstreik neulich in Frankreich. Wäre das eine Alternative, hier auf Urk? „Ach, nee. Wir sind christlich hier. Das passt nicht zu uns. Wir hoffen lieber auf göttlichen Beistand.“