: Unfassbarer Amazonas
Letzte Gewissheiten über die Amazonasregion sind rar. Umso üppiger blühten und blühen ethnozentrische Sichtweisen, die bis heute die Begleitmusik zu ihrer Kolonialisierung sind. Inzwischen werben Reiseführer mit dem Idyll des „Dschungel pur“
von GERHARD DILGER
Aus der Felswand eines schneebedeckten Berges im peruanischen Andenhochland spritzen Dutzende von Fontänen. Auf 5.500 Meter Höhe, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Arequipa und Cuzco, hat Andrew Pietowski vor drei Jahren zusammen mit 21 weiteren Forschern der „National Geographic Society“ die Quelle des Amazonas entdeckt. Mit Hilfe des satellitengestützten Navigationssystems GPS – Fehlerspanne fünf Meter – ermittelte der US-amerikanische Mathematiklehrer: Am Nevado Mismi liegt der Ursprungspunkt des Amazonas, der am weitesten von der Mündung beim brasilianischen Belém entfernt ist – genau 6.275 Kilometer.
Seinen Namen bekam der wasserreichste Fluss der Erde dank einer Begebenheit auf der Expedition des Francisco de Orellana. Von Quito aus war der spanische Konquistador mit seinem Vorgesetzten Gonzalo Pizarro 1541 auf der Suche nach El Dorado und einem ebenso legendären „Zimtreich“ westwärts aufgebrochen, mit 210 Landsleuten, 4.000 indianischen Trägern in Ketten, Schweinen als Proviant und Lamas als Lasttieren. Am östlichen Andenabhang ließ Pizarro eine Brigantine bauen und schickte Orellana mit 57 Begleitern auf eine Erkundungsfahrt. Das Schiff wurde abgetrieben, die erste Amazonasfahrt europäischer Abenteurer begann.
Monate später, am 24. Juni 1542, wurde die Gruppe bei einem Plünderungsversuch von Einheimischen zurückgeschlagen. Darunter, so berichtete der Feldkaplan und Chronist Gaspar de Carvajal, waren mehrere weißhäutige, große Frauen mit langem Haar, „das sie geflochten und um den Kopf gewickelt haben. Sie sind sehr kräftig und gehen, abgesehen von der bedeckten Scham, ganz nackt. In den Händen tragen sie Pfeile und Bogen, und sie leisten im Kampf so viel wie zehn männliche Indianer.“
Ob Carvajal dabei an die kleinasiatischen Kriegerinnen aus Homers Ilias dachte oder eher an die „schwarzen Amazonen Kaliforniens“ aus dem zeitgenössischen Ritterroman Amadís de Gaula, ist nicht überliefert – doch wegen seiner mehrfach aufgelegten Chronik der Erkundungsfahrt erhielt der Fluss den Namen „Río de las Amazonas“. Ende August 1542 erreichte die Expedition die Mündung, die „Amerigo Vespucci ein halbes Jahrhundert zuvor für Europa entdeckt hatte“, behauptete etwa der Kolonialhistoriker Urs Bitterli.
Doch letzte Gewissheiten gibt es über diese Fragen ebenso wenig wie über die indigenen Gesellschaften vor der Ankunft der Europäer, die neueren archäologischen Forschungen zufolge weitaus komplexer waren als bisher angenommen. Immer wieder entzieht sich der Amazonas den Versuchen, ihn zu (be)greifen. So bei der Frage des Ursprungs: 1996 war – ebenfalls per GPS – eine andere Quelle ermittelt worden, am Fuße des benachbarten Nevado Quehuisha. Und ein drittes Forscherteam plädierte für einen unterirdischen Gletscher. Insgesamt münden mehr als 1.000 Nebenflüsse aus neun Ländern in den Amazonas, 17 von ihnen sind über 1.600 Kilometer lang.
Ein anderer etymologischer Erklärungsversuch geht nicht von den mythischen Amazonen aus, sondern vom indigenen Begriff „amassunu“. Das Wort bedeutet „Wasserlärm“ und bezieht sich vielleicht auf die tosende Pororoca-Flutwelle, die von Januar bis April vom Ozean her landeinwärts rollt. Und es erinnert an den Namen des Amazonas dort, wo er durch tiefe Schluchten die peruanischen Anden herabdonnert: Apurímac, „sprechender Gott“. Sein Flussbett ist nach einer Quechua-Legende jene Spur, die der Schlangengott Amaru hinterließ, als er die Erde küsste.
Ob Amerigo Vespucci tatsächlich die Amazonasmündung umfahren hat, geht aus seinen Briefen über die „neue“ Welt nicht eindeutig hervor. Auf jeden Fall prägte der Florentiner Namensgeber des Kontinents die europäischen Vorstellungen über Südamerika wie kaum ein Zweiter. In den reißerischen Berichten Mundus Novus und Quatuor Navigationes, die ab 1505 meist illustriert in unzähligen Auflagen verbreitet wurden, schilderte er die „fruchtbare und liebliche“ Landschaft und angebliche Gewohnheiten der Ureinwohner. Die, so Vespucci, waren einerseits sanftmütig, freundlich und liebenswert, andererseits huldigten sie lustvoll dem Kannibalismus.
Die Verklärung der Amerikaner zu „edlen Wilden“ und ihre Verteufelung als „Barbaren“ durchzog seitdem die europäische Geistesgeschichte. Sie bildete die Begleitmusik zur Dezimierung der indigenen Völker, die auch in Amazonien stattfand. Ironie der Geschichte: Bei seinen Bestsellern ist Vespuccis Autorenschaft nicht zweifelsfrei belegt. Seine echten, weitaus unspektakuläreren vier Briefe wurden erst Jahrhunderte später ausgegraben.
Ethnozentrische Sichtweisen zwischen romantischer Idealisierung und bizarrer Übertreibung prägen bis heute das Amazonasbild der Nicht-AmazonierInnen, kommen sie nun aus Frankfurt oder São Paulo: Wie zur Kolonialzeit schaffen sich die Einwohner der Metropolen jene Bilder, mit denen sich die Erschließung des Hinterlandes rechtfertigen lässt. Geschickt knüpft daran die Tourismusbranche an: Reiseführer für Individualisten werben mit dem Idyll des „Dschungel pur“, Agenturen bieten „Amazonas-Pakete“ für jeden Geschmack an – vom „Survival Training“ in der „grünen Hölle“ bis zur Jungle Lodge für den „hautnahen Kontakt mit der Natur“. Immer mehr Unternehmer, Regierungsplaner und Entwicklungsexperten setzen auf die äußerst lukrativen „Wachstumspotenziale“ des „Öko“-Tourismus. Den Gemeinschaften vor Ort hingegegen gelingt es nur in Ausnahmefällen, diese Entwicklung für sich zu nutzen. Oft genug werden sie zu exotischer Staffage degradiert, etwa in jenen Siedlungen, bei denen die Urwaldreisenden auf ihren Touren kleine Zwischenstation machen.
Dennoch: Zu den Versuchen, den Fremdenverkehr in der Region schrittweise umwelt- und sozialverträglicher zu machen, wie es im Slang der Planer und NGOs heißt, gibt es keine Alternative. Das zeigt sich besonders deutlich im Dreiländereck Peru/Kolumbien/Brasilien, wo sich wegen des anhaltenden Mehrfrontenkriegs in Kolumbien immer weniger Touristen blicken lassen.
Dabei lassen sich vom kolumbianischen Letícia aus wie eh und je Ausflüge in die nähere oder weitere Umgebung unternehmen, um sich dem Amazonas anzunähern – der Artenvielfalt seiner Tier- und Pflanzenwelt, seinen Sonnenuntergängen, seinen Mythen wie dem der rosaroten Delfine, die in Vollmondnächten an Land gehen und die Frauen verführen.
Zugleich ist in Letícia und im brasilianischen Nachbarort Tabatinga kaum zu übersehen, welches die wohl größe Gefahr ist, die derzeit für die Amazonasregion besteht: das Kokaingeschäft, der wichtigste Treibstoff für den Krieg in Kolumbien. Der wiederum zieht immer stärker sämtliche Nachbarländer in Mitleidenschaft, vor allem die BewohnerInnen abgelegener Grenzregionen.
Ihren Anstrengungen, dem Drogenhandel Herr zu werden und den Krieg vom eigenen Territorium fern zu halten, hat die brasilianische Bundespolizei einen ganz amazonischen Namen verpasst: Operation Kobra.