: Die Neuerfindung der Ukraine
Oranger Westen, blauer Osten – so einfach schienen sich in der Berichterstattung die politischen Lager innerhalb der Ukraine zunächst aufzuteilen. Doch während der letzten Woche hat der Konflikt um die Präsidentenwahlen das Modell einer offenen, postsowjetischen Zivilgesellschaft hervorgebracht
VON UWE RADA
Wer dieser Tage die Ereignisse in Kiew vor dem Fernseher verfolgt, muss sich zwangsläufig mit der ukrainischen Farbenlehre auseinander setzen. Orange, diese Lektion haben wir gelernt, ist die Farbe der Opposition, Blau die der Oligarchie. Orange, das ist ein Signal in Richtung Europa und der Zukunft, Blau eines in Richtung Russland und der Vergangenheit. Blau und Gelb, die Farben der ukrainischen Nationalflagge, treten da zwangsläufig in den Hintergrund. Nicht mehr um die Ukraine scheint es in der Farbenlehre von Kiew zu gehen, sondern um den orangen Westen und den blauen Osten.
Die symbolische Teilung der Ukraine wurde schon mehrfach vollzogen, seitdem das Land 1991 seine Unabhängigkeit erreichte. Sie beschäftigte – als geostrategisches Bedrohungsszenario – die USA, die einen weiteren russischen Griff auf den Kaukasus fürchteten; und sie beschäftigte die Europäische Union, die schlechten Gewissens feststellen musste, dass sie keine Antwort auf die Frage hätte, die eine vom Osten des Landes abgespaltene Westukraine aufwerfen würde.
Nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen vom 21. November und dem scheinbar unversöhnlichen Aufeinandertreffen von Orange und Blau schien aus diesen Szenarien plötzlich traurige Wirklichkeit werden zu können. Auf einer Sitzung des Regionalrats von Donezk wurde bei nur einer Gegenstimme beschlossen, die Bürger zu einem Referendum über den Status der wirtschaftsstarken Region als autonome Republik aufzurufen. Anwesend auf der Sitzung waren auch der amtierende Regierungschef Wiktor Janukowitsch und der Moskauer Bürgermeister Juri Luschkow, der die Proteste in Kiew einen „Hexensabbat in Orange“ genannt hat.
Der Gouverneur der Region Charkiw ging sogar noch einen Schritt weiter und rief, ohne einen Gedanken an ein Referendum zu verschwenden, die Autonomie des ukrainischen Südostens aus – mit Charkiw als Hauptstadt. Ähnliche Meldungen gab es auch aus Odessa oder Lugansk.
Sollten Wiktor Janukowitsch und Luschkow als lachende Dritte aber gedacht haben, mit diesen Drohungen den noch amtierenden Präsidenten Leonid Kutschma unter Druck zu setzen, sahen sie sich getäuscht. Das genaue Gegenteil war der Fall. „Wenn wir wirklich Frieden und Eintracht erhalten und eine demokratische Gesellschaft aufbauen wollen, aber es gelingt uns nicht auf legale Weise“, reagierte Kutschma auf die Drohungen, „dann lasst uns neue Wahlen abhalten.“ Im Zweifel ist der amtierenden Oligarchie in Kiew die Einheit des Landes also wichtiger als der Fortbestand ihrer Macht.
Das ist nicht einmal überraschend. Beim Referendum über die Unabhängigkeit von Moskau stimmte 1991 auch im Osten der Ukraine die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung mit Ja. Landesweit lag die Zustimmung bei 90,1 Prozent. In Kiew hat man, auch unter den Insignien einer Oligarchie, seitdem immer eine Politik des Ausgleichs gesucht.
Doch dieses postsowjetische Nation Building gilt vielen in der Ukraine inzwischen als gescheitert. Namentlich die ehemalige Zugehörigkeit des Westens zur österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie und die der östlichen Landesteile zum zaristischen Russland gilt immer wieder als Hinweis auf einen „Kampf der Kulturen“ zwischen einem „europäischen“ und einem „asiatischen“ Teil des Landes.
Aber auch der Hinweis auf einen Religionskampf darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. So bezeichnete die französische Tageszeitung Le Monde die derzeitigen Spannungen zwischen dem Westen und dem Osten der Ukraine als „Blaupause des tausendjährigen Konflikts zwischen Orthodoxie und Katholizismus“.
Mykola Riabchuk, Herausgeber des Kiewer Literaturmagazins Krytyka, hat deshalb schon ein Jahr nach der Unabhängigkeit sein Konzept der „zwei Ukrainen“ ausgerufen. Zu diesem Konzept gehören nach Ansicht der Charkiwer Philosophin Tatiana Zhurzhenko auch zwei Transformationspfade im Umgang mit der Vergangenheit. Während der Westen aufgrund seiner Geschichte die sowjetische Vergangenheit „externalisieren“ und damit rückwirkend als „Fremdherrschaft“ interpretieren konnte, hätten dem russischsprachigen Osten des Landes solche „Entlastungsmodelle“ nicht zur Verfügung gestanden.
Nur, diese Trennlinien, die von der Kiewer Farbenlehre und dem Konzept der „zwei Ukrainen“ behauptet werden, stimmen nicht mehr. Allein die Tatsache, dass die Massenproteste gegen die Wahlfälschungen vom 21. November in Kiew und nicht in den ehemaligen Habsburgerstädten Lemberg, Iwano-Frakniwsk, Ternopil oder Czernowitz begonnen haben, zeigt, dass sich die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit weiterentwickelt hat – und das vor allem in ihrer Hauptstadt, die mit großer Mehrheit für Wiktor Juschtschenko gestimmt hat. Und auch in Charkiw, das sich so voreilig von Kiew loslösen wollte, hat die Oppositionsbewegung „Nascha Ukraina“ mittlerweile eine Massenbasis.
Diese Auflösung der vormaligen Trennlinien bleibt auch für die westukrainischen Regionen nicht ohne Wirkung. Noch vor Jahren pflegte man in Lemberg einen Nationalismus, der für westliche Beobachter alles andere als demokratisch anmutete, weil er unverhohlen antirussisch daherkam. Vertreter der Opposition, aber auch polnische Intellektuelle, die sich als Anwalt der Ukraine auf dem Weg nach Europa verstanden, haben diesen ukrainischen Alltagsrassismus immer wieder mit dem Argument zu erklären versucht, dass der ukrainische Weg zur Demokratie nur über ein starkes Nationalbewusstsein führen könne, auch wenn dieses – zugegeben – antirussisch war.
Dass es so einfach nicht war, musste schon damals der Direktor des ethnografischen Museums in Lemberg, Roman Czmelyk, einräumen. Czmelyk meinte zwar, dass die russische und russischsprachige Bevölkerung die Ukraine nicht in dem Maße als „ihr“ Land begriffen, wie dies in Estland oder Lettland der Fall sei. Doch als „fünfte Kolonne“ wollte er den Osten des Landes nicht begreifen. „Es gibt im Grunde zwei russische Gesellschaften“, sagte Czmelyk. „Die eine hasst Puschkin, die andere Sacharow, die einen wollen einen demokratischen Weg einschlagen, die anderen träumen weiter vom großrussischen Reich.“ Die Zugewinne der Opposition auch im Osten der Ukraine geben Czmelyk im Nachhinein Recht.
Aber auch der Opposition wird im Westen des Landes längst nicht mehr unkritisch gefolgt. Dem Nationalismus einer Julia Timoschenko setzt man vor allem unter den kulturellen und wissenschaftlichen Eliten ein Mehr an Zivilgesellschaft gegenüber. Themen sind die ökologische Katastrophe nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl, die Situation von Frauen, die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus, die nur langsam vorankommt. „Dazu gehört auch die Forderung nach Selbstbestimmung und Dezentralisierung“, sagt Alexander Lawrynowicz, der als Politologe an der Lemberger Universität arbeitet. Aber darauf dürfe man auch unter einem Präsidenten Juschtschenko nicht hoffen. „Juschtschenko wird in Kiew mit der gleichen präsidialen Macht reagieren wie seine Vorgänger“, so Lawrynowicz.
Doch Kiew, das ist seit dem Beginn der Massenproteste am 21. November kein Symbol der Oligarchie mehr, sondern ein Symbol der demokratischen Bewegung von unten. Auf der Bühne am Unabhängigkeitsplatz (!) übt man sich in Pluralität, es treten polnische Punkbands auf und ukrainische Rockbands, und selbst die nationale Symbolfigur Julia Timoschenko öffnet ihren altukrainischen Zopf und sieht auf einmal ganz zivil aus, wie unlängst ein westlicher Korrespondent anmerkte.
Die Zeltstädte, die beinahe aus dem Nichts auf dem Prachtboulevard Kreschtschatik wuchsen, sind zu Schulen der Zivilgesellschaft geworden, in denen sich wildfremde Menschen in fröhlicher Disziplin üben. Selbst die orangen und blauen Demonstranten, die sich auf den Straßen von Kiew treffen, begegnen einander mit Respekt.
Was sich in diesen Tagen in der ukrainischen Hauptstadt abspielt, ist kein „Clash of civilizations“, zu dem die „zwei Ukrainen“ drängen. Es ist auch kein Vorgeschmack auf einen Bürgerkrieg zwischen dem Westen und dem Osten, sondern eine neue, eine zweite Stufe des Nation Building. Kiew, das ist ganz selbstverständlich zu einem Symbol dieser demokratischen Etappe in der Geschichte des Landes geworden. Was wir dieser Tage auf dem Platz der Unabhängigkeit erleben, ist die Neuerfindung der Ukraine und ihrer Hauptstadt.
Erfahrungen wie diese wirken länger als politische Weichenstellungen. Auch wenn sich Wiktor Janukowitsch oder ein anderer Vertrauter von Nochpräsident Leonid Kutschma im Nervenkrieg um die Macht am Ende weitgehend durchsetzen sollte, wird die „Erfahrung Kiew“ nicht mehr ohne weiteres rückgängig gemacht werden können.
Das betrifft nicht nur die künftige Außenpolitik des Landes, bei der sich weder ein oranger Kandidat von Moskau lossagen noch ein blauer Kandidat Moskau unterwerfen wird. Es gilt auch für die ukrainische Innenpolitik. Auch wenn die Menschen die Straße wieder verlassen haben, wird kein ukrainischer Präsident den vermeintlichen „Kulturkampf“ für sich entscheiden können. Was vielmehr vonnöten sein wird, ist die hohe Kunst des Ausgleichs und des Kompromisses. Dafür ist in der „demokratischen Erfahrung“ in Kiew der Grundstein gelegt worden.
„In der Zeit des Sowjetimperiums lernten wir in der Schule, dass Peter der Große ein Fenster nach Europa geöffnet hat“, sagt die Charkiwerin Tatiana Zhurzhenko. „Es war das einzige Fenster, das die Ukrainer besaßen, die unter russischer und dann sowjetischer Herrschaft lebten.“ Um dieses Fenster nun weiter aufzustoßen, meint Zhurzhenko, müsse noch viel getan werden. „Doch ich werde nie das Argument akzeptieren, dass wir, um das neue Fenster zu öffnen, das alte schließen müssen.“