: Aufs Kreuzchen gelegt
Eine Abstimmung über die europäische Verfassung wird es in mehreren Ländern geben. Auch in Deutschland wäre ein Referendum sinnvoll. Doch viele Politiker zögern noch
Am 29. Oktober setzten die Staats- und Regierungschefs in Rom ihre Unterschrift unter den Entwurf für Europas erste gemeinsame Verfassung. Doch vor dem Inkrafttreten steht noch ein hürdenreicher Weg bevor. Bis Ende 2006 müssen alle 25 Mitgliedstaaten diesem Entwurf zustimmen. Doch wer ist es, der über diese Verfassung entscheidet? In Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Irland und Spanien sind es die Bürgerinnen und Bürger selbst. Nicht so in Deutschland – hier soll das Volk aus Angst vor einer Ablehnung des Verfassungsentwurfs bei der Entscheidung außen vor gelassen werden.
Dabei gibt es gute Gründe für ein Referendum über die Europäische Verfassung. Erstens ist eine Verfassungsentscheidung grundlegend für eine Demokratie. Sie setzt den Handlungsrahmen und die Spielregeln der politischen Auseinandersetzung. Es ist nicht plausibel, wenn sich allein die Politik selbst den sie beschränkenden Rahmen setzt.
Zweitens ist der Verfassungsentwurf in der Zivilgesellschaft hoch umstritten und bedarf der grundlegenden öffentlichen Debatte. Den Verbesserungen im institutionellen Gefüge und der Entscheidungsfähigkeit der EU sowie der Aufnahme der Grundrechtecharta stehen einige kritische Punkte gegenüber: Dazu gehört die Festschreibung einer marktliberalen Wirtschaftsordnung und der Ausbau militärischer Kompetenzen ohne Kontrolle durch das Europäische Parlament. Genügend Anlass, die Pros und Contras der vorliegenden EU-Verfassung ausführlich und öffentlich zu diskutieren. Nicht zuletzt wäre ein Referendum über die EU-Verfassung auch ein Testlauf für die grundsätzliche Einführung von plebiszitären Elementen auf Bundesebene. Eine erfolgreiche Durchführung eines ersten bundesweiten Volksentscheides erhöht den Druck, BürgerInnen auch bei der Entscheidung über wichtige andere politische Fragen zu beteiligen.
Welche Folgen kann ein deutscher Volksentscheid zur EU-Verfassung nach sich ziehen? Ist die Angst vor einer Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland begründet? Die erste und derzeit wahrscheinlichste Möglichkeit ist die Zustimmung zum vorliegenden Entwurf. Der Vorteil gegenüber einer rein parlamentarischen Ratifizierung wäre groß. Die Politik wäre gezwungen, ausführlich zu informieren. Durch die Möglichkeit zur Mitentscheidung entsteht Interesse und eine ernste bürgerschaftliche Diskussion – ein wichtiger Schritt zu einem demokratischen Europa der BürgerInnen.
Die zweite, unwahrscheinlichere Variante ist die Ablehnung des Verfassungstextes. Von Referendumsgegnern wird das Schreckgespenst einer De-facto-Abstimmung über die aktuelle Politik der Regierung an die Wand gemalt. Angesichts einer Allparteienkoalition im Bundestag für den Verfassungsentwurf erscheint das wenig plausibel. Auch wäre eine Ablehnung der Verfassung in Deutschland nicht gleichbedeutend mit einer Ablehnung des europäischen Integrationsprojektes. Anders als in einigen anderen europäischen Ländern, verfolgen in Deutschland nur marginale sektiererische Strömungen am linken und rechten Rand diese Position. Die Stimmung in Deutschland ist grundsätzlich proeuropäisch.
Durchaus denkbar erscheint aber eine Ablehnung aus inhaltlichen Erwägungen: „Wir wollen Europa, aber nicht in dieser Verfassung.“ Eine solche Forderung nach einem „Zurück auf Los“ bedeutet nicht das Ende des Europäischen Projektes. Vielmehr ergeben sich Chancen, einen zweiten, diesmal demokratischeren und transparenteren Verfassungsgebungsprozess zu initiieren. Ein zweiter Konvent müsste sich nicht aus eingesetzten, sondern vom Volk gewählten Mitgliedern zusammensetzen. Statt, wie im ersten Konventsprozess, das Präsidium feststellen zu lassen, was die Mehrheit der Konventsmitglieder will, würden echte Abstimmungen erfolgen. Zudem müsste ein neuer Verfassungstext Europa eben nicht vor allem als Freihandelszone, sondern als politisch gestaltbaren Raum definieren und als Antwort auf den zunehmenden Steuerungsverlust der Nationalstaaten begreifen. Jacques Delors’ Vision Ende der 80er Jahre, dem gemeinsamen Binnenmarkt den Steuerungsrahmen eines sozialen Europas entgegenzusetzen, könnte so eine Renaissance erleben. Soziale Standards und Steuerharmonisierung statt Lohndumping und ruinösen Steuerwettbewerb.
Wie das Ergebnis auch ausgehen mag, in jedem Fall scheint die Angst der Referendumsgegner unbegründet. Und in der Tat sprechen sich VertreterInnen aller großen Parteien für einen Volksentscheid zur EU-Verfassung aus. Nur eben leider nicht genau so, wie es die jeweils andere Partei will. Es droht die schlechteste Lösung, nämlich gar keine. Denn ein Volksentscheid zur EU-Verfassung bedarf einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat.
Motiviert von Zustimmungsraten von 73 Prozent der Bevölkerung für ein Referendum zur EU-Verfassung, hat die Regierungskoalition in diesem Herbst einen Gesetzentwurf vorgelegt. Wohlwissend, die Hürde für die CDU damit zu hoch zu legen, koppelte man die Frage des Verfassungsreferendums an die prinzipielle Einführung von bundesweiten Volksentscheiden. Ein Nein der Union käme den Volksabstimmungsskeptikern Schröder und Fischer nicht ungelegen. Sprechen sich doch die CSU und auch die Mehrheit in der CDU für ein Referendum zur EU-Verfassung, aber gegen plebiszitäre Elemente im Allgemeinen aus.
Ende Oktober bot die Koalition der Union Konsensgespräche im vorparlamentarischen Raum an. Stoiber und Merkel verwiesen auf die parlamentarischen Beratungen: Die Koalition solle ihren Gesetzentwurf doch in den Bundestag einbringen. Müntefering antwortete mit einem jähen Rückzieher: Parlamentarische Beratungen würden zu viel Zeit in Anspruch nähmen. Doch die Eile ist wenig nachvollziehbar. Deutschland hat bis Ende 2006 Zeit, den Verfassungstext zu ratifizieren. Der Verdacht liegt nahe, dass die SPD die Opposition nur vorführen wollte und jetzt versucht, das Thema möglichst unauffällig zur Seite zu schaffen.
Doch in den letzten Tagen mehren sich die Rufe bei SPD und Grünen, den Gesetzentwurf einzubringen. Auch die FDP signalisiert Einigungsbereitschaft. Jetzt ist es an Müntefering, zurückzurudern. Dann ist Einigungsbereitschaft von beiden Seiten gefragt. Die CDU muss endlich klar Farbe bekennen. Und die Regierungskoalition darf nicht mit Maximalforderungen den Minimalkonsens Referendum über die EU-Verfassung verhindern. Der gewöhnliche Bürger versteht und unterstützt ein solches Geeiere nicht.
Der Volksentscheid zur EU-Verfassung muss als Chance begriffen werden – als wichtigen Schritt zur prinzipiellen Einführung von Volksentscheiden. Er darf deshalb nicht im Parteienstreit versanden. Darum sind jetzt vor allem wir Bürgerinnen und Bürger selbst gefragt. Wir müssen Druck machen, dass unsere Stimme zur EU-Verfassung zählt. CHRISTOPH BAUTZ GÜNTER METZGES