: Heimliche Beobachtungen aus nächster Nähe
Weshalb unterstreicht ein solcher Mann Texte akribisch mit dem Lineal? Er ist ein Rätsel, gehört aber auf jeden Fall zur Gattung der Bohemiens
Christian ist nicht nur ein wandelndes Lexikon, das zu konsultieren schon deshalb lohnt, weil man nebenher immer vieles erfährt, was man gar nicht wissen wollte; er ist auch ein Enigma, dessen Lösung in keinem Lexikon zu finden ist. Ich, dem es vergönnt war, über zwei Jahre lang sein Tischnachbar zu sein, habe reichlich Zeit gehabt, ihn heimlich zu observieren. Ich habe seine Mimik studiert und auch seine Marotten mitgekriegt, und ich habe viel über ihn nachgedacht. Aber letztlich blieb er für mich ein großes Mysterium.
Von den vielen ungelösten Fragen, die sich mir stellten, die ich ihm aber nie zu stellen wagte, will ich hier nur zwei erwähnen. Weshalb bloß unterstreicht ein Mann, der – wie jeder, der mit einem Minimum an Menschenkenntnissen ausgestattet ist, zugeben wird – eher der Gattung der Bohemiens als jener der Korinthenkacker angehört, der in großen Würfen zu denken und das Leben in vollen Zügen zu genießen versteht, weshalb unterstreicht ein solcher Mann Textstellen, die ihm bei der Lektüre eines Buches wichtig scheinen, akkurat, akribisch und fein säuberlich mit Hilfe eines Lineals? Ich habe es wirklich nie verstanden. Er blieb mir ein Rätsel.
Und weshalb nimmt er – wie ein Handwerker, der permanent mit beiden Händen beschäftigt ist, in der einen den Nagel, in der andern den Hammer halten muss – die Zigarette nicht aus dem Mund, wenn er spricht? Zum Schreiben auf der Computertastatur braucht auch er beide Hände (wenn auch nur zwei Zeigefinger), ist ja gebongt; aber meistens schreibt er doch gar nicht, sondern denkt nach. Lange. Sehr lange. Bis die Asche seiner Zigarette lang und länger wird, sich gefährlich zu krümmen beginnt, den Tischnachbar in Bann zieht, ihn jeder Denkfähigkeit beraubt und dann prosaisch auf das Manuskript oder die Hosen fällt, um mit einer beiläufigen Handbewegung weggewischt zu werden.
Man kann den Mann natürlich auch rechtzeitig warnen. Doch ist dies nicht einfach, weil er fast immer in die Lektüre vertieft ist und in der Regel gar nicht wahrnimmt, dass er angesprochen wird. Am einfachsten ist es, ihn anzurufen. Auf der andern Seite des Tisches nimmt er den Hörer ab. „Christian, pass auf die Asche auf …“ – „Wie bitte? Wer sind Sie denn? Welche Asche?“ Und da er die Zigarette beim Reden – wie immer – nicht aus dem Mund nimmt, fällt schon allein aufgrund der Lippenbewegungen die Asche wieder auf das Manuskript oder die Hose. Mir kann es ja egal sein. Aber man macht sich eben so seine Gedanken. THOMAS SCHMID
Thomas Schmid, 53, war von 1995 bis 1996 Chefredakteur der taz. Er lebt heute als freier Journalist in Berlin.