„An Wut mangelt es nicht“

REVOLUTION Wir fühlen uns für das Scheitern selbst verantwortlich, sagt Protestforscher Roland Roth. Deshalb wird es keinen Aufstand geben – auch wenn das gesünder wäre. Ein Gespräch zum 1. Mai

■ Jahrgang 1949, ist Bewegungsforscher und Professor für Politikwissenschaft an der Hochschule Magdeburg-Stendal

■ Zusammen mit Dieter Rucht gibt er das Standardwerk über Protest in Deutschland heraus: „Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945“.

■ Roland Roth erforschte unter anderem den Widerstand gegen Hartz IV, Proteste gegen Armut in den USA, Integration sowie die Wirksamkeit von Programmen gegen Rechtsextremismus.

INTERVIEW FELIX LEE
UND DANIEL SCHULZ

taz: Herr Roth, beginnt am 1. Mai der Aufstand?

Roland Roth: Sicher nicht. Aber diesmal könnte es heftiger werden als in den Vorjahren. Ein Teil der autonomen Szene wird sich als Rächer der Enterbten fühlen und Krawall machen. Die abgefackelten Luxuskarossen der vergangenen Monate waren dafür erste Zeichen.

Aber erwarten Sie die Unruhen, vor denen DGB-Chef Michael Sommer und SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan warnen?

Nein, daran glauben die beiden doch selbst nicht. Eine Drohkulisse wird symbolpolitisch genutzt: Wenn ihr das Sozialsystem weiter beschneidet, müsst ihr mit Aufruhr rechnen. Ein ganz altes Spiel: Schon an der Wiege des Sozialstaats stand die Angst der Besitzenden vor Unruhen. Und die schürt man jetzt, ohne selbst für eine Protestbewegung zu mobilisieren. Weder Gewerkschaften und SPD noch die CDU oder die Firmenchefs rechnen aktuell wirklich mit einer Revolte.

Warum?

SPD und Gewerkschaften haben den Kontakt zum wachsenden Prekariat von Arbeitslosen und Schlechtbeschäftigten weitgehend verloren. Sie könnten die Drohung gar nicht wahrmachen und sich an die Spitze einer sozialen Protestbewegung stellen. Andererseits könnten sie diese auch nicht steuern oder verhindern, wenn es sie gäbe. Das wissen sie selbst.

Wer könnte das dann?

Niemand. Dass die stärkste soziale Protestbewegung der neuen Bundesrepublik, die gegen die Einführung von Hartz IV, gescheitert ist, wirkt noch immer lähmend. Es fehlt eine solide Infrastruktur, die eine dauerhafte und wirkungsvolle Protestbewegung tragen könnte.

Die Krisendemonstrationen am 28. März versuchten den allgemeinen Unmut zu kanalisieren. Warum gelang das nicht?

Gerade die sozial Benachteiligten sehen den direkten Nutzen solcher Proteste für sich nicht. Die meisten Menschen schließen sich nur einer Protestbewegung an, die Aussicht auf Erfolg hat. Die außerparlamentarische Linke sieht einfach nicht wie ein Sieger aus. Sie wirkt zu schwach, um wirklich etwas zu verändern.

Aber könnte es nicht so kommen wie bei der Französischen Revolution? Dort wurde die unangreifbar scheinende Monarchie über Nacht zertrümmert.

Das ist völlig unwahrscheinlich. In der Französischen Revolution gab es mit dem aufstrebenden Bürgertum einen Stand mit einem starken Klassenbewusstsein: Für die damaligen Unternehmer standen auf der einen Seite die Adligen – dekadente Schmarotzer, die in Luxus schwelgten. Auf der anderen Seite stand man selbst – arbeitsam, sittsam und moralisch integer. Man empfand sich selbst als eigentlicher Träger der Gesellschaft. Warum sollte man prassende Höflinge alimentieren?

Genau die gleiche Frage ließe sich heute auch stellen.

Teile des Mittelstands wurden mit dem Konjunkturprogramm ruhiggestellt. Diese Schichten glauben pathologisch an die selbstheilende Kraft des Marktes. Und wenn der es nicht schafft, muss ihm eben der Staat helfen. Die Idee einer anderen Gesellschaft existiert nicht. Natürlich stößt viele das dekadente Verhalten der Finanzbranche und mancher Firmenbosse ab. Aber das bleibt folgenlos.

Warum?

Weil ihr Verhalten nicht öffentlich geächtet wird. Medien und Politiker warnten vorsorglich vor einem Manager-Bashing. Der Begriff „Bankster“ wurde bei uns nicht heimisch. In den Talkshows sitzen noch immer die alten Figuren mit den immer gleichen Parolen. Auch der Chef der Deutschen Bank hat schon verkündet, man mache weiter wie bisher. Die Situation erinnert an Walter Benjamin: dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.

Dann hoffen wir also mit Karl Marx aufs Proletariat?

Nicht hier. Da müssen wir schon nach Lateinamerika schauen, wo Arbeiter bankrotte Fabriken übernommen haben. Das wäre selbst nach dem Abzug von Nokia aus Bochum nicht denkbar gewesen. Es fehlt die Kultur des „Wir schaffen das auch selbst“. Weder bei den Bürgern noch bei den Arbeitern existiert das Selbstbewusstsein, die tragende Schicht der Gesellschaft zu repräsentieren.

Und die Unterschicht?

Die war schon während der Französischen Revolution eher eine Verfügungsmasse, die benutzt wurde. Ähnliches droht heute. Die Finanzkrise ist Wasser auf die Mühlen der Rechtsextremen mit ihrer Hetze gegen Wall Street und Weltjudentum. Zum Glück steht die Szene derzeit so desolat und organisatorisch geschwächt da.

Wie soll die Wut dann den extremen Rechten nutzen?

Die NPD erreicht heute soziale Milieus, die für die anderen Parteien schon längst verloren sind. Ihre Abgeordneten kommen häufig aus unteren Schichten und sind viel jünger. Ich befürchte keinen rechten Putsch. Aber die Rechtsradikalen könnten aus der Krise gestärkter hervorgehen als die Linke.

Bisher wählen USA-Hasser aber lieber die Linkspartei.

Wenn die Krise mit Massenentlassungen und Betriebsschließungen voll durchschlägt, wird das Placebo „Abwrackprämie“ seine Wirkung einbüßen und vermutlich eine radikalere Kritik der Verhältnisse an Boden gewinnen. Sie wird auch eine eher traditionell sozialdemokratisch gestimmte Linkspartei treffen, die mitregiert und das derzeitige System stabilisiert. Ihre Mitglieder haben für Protestpolitik ohnehin nicht viel übrig.

Warum werden in Frankreich Manager als Geiseln genommen und hier nicht?

In Frankreich gibt es traditionell eine klare Frontstellung zwischen dem Patron und den Beschäftigten. Bossnapping wird dort als gesteigerte Form der Tarifverhandlung betrachtet. Hierzulande sitzen die Gewerkschaften mit im Aufsichtsrat, diese Mitbestimmung hat Tradition.

Wie wirkt sich diese Betriebskultur auf Proteste aus?

Die traurige Seite der Tradition zeigte sich bei der Mobilisierung für Frau Schaeffler. Nachdem ihr Continental-Coup krisenbedingt zu scheitern drohte, demonstrierten Schaeffler-Beschäftigte für Staatshilfen. Warum unterstützen sie ausgerechnet eine Frau, die jahrelang gewerkschaftliche Strukturen missachtet hat, statt sich mit Continental-Arbeitern zu solidarisieren?

„Die Rechtsradikalen könnten aus der Krise gestärkter hervorgehen als die Linke“

Aus Dummheit?

Es mangelt an Klassenbewusstsein und Solidarität. Die Schaeffler-Beschäftigten haben sich von der Übernahme von Continental eine Stärkung ihres Standorts versprochen. Ich würde es als betriebsborniert bezeichnen.

Was muss passieren, damit die Wut hierzulande wächst?

An Wut mangelt es nicht. Zu Hause, am Stammtisch, in der Mittagspause auf der Arbeit – da schimpfen die Menschen. Der moralische Kredit der Wirtschaftseliten ist verspielt, niemand glaubt diesen Leuten mehr irgendetwas. Aber es glaubt auch niemand, dass es ihm bessergeht, wenn er diese Leute gefangen nimmt oder vermöbelt.

Also gibt es keine Revolte, und alles geht weiter wie bisher? Ist das Ihr Fazit?

Nein. Protestbewegungen sind Teil einer demokratischen Kultur, durch die sich ausgegrenzte Interessen immer wieder Gehör verschaffen. Aktuell droht aber eher eine Erosionskrise. Dazu gehören vielfältige Ausgrenzungserfahrungen: auf dem Arbeitsmarkt, in abgehängten Regionen, in einer verfallenden öffentlichen Infrastruktur. Hierzulande wenden die Menschen solche Erfahrungen aber eher gegen sich selbst – etwa in Depressionen, Sucht oder Suizid. Wir erleben einen Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts – keine Explosion, sondern eine Implosion.

Ist das typisch deutsch?

In Frankreich, den USA oder England richten sich Aggression und Wut heute stärker nach außen, gegen die Verursacher der Finanzkrise. Dort werden Banken umzingelt oder Manager gefangen gesetzt. Protest ist jedenfalls gesünder, als die Wut in sich hineinzufressen.

Wieso ist das hier anders?

Wir haben eine Kultur der Selbstzurechnung. Das lernen wir schon in der Schule: Jeder muss sich den gleichen Aufgaben stellen. Wer sie nicht meistert, ist automatisch ein Versager. Diesen fatalen Mechanismus müssen wir überwinden. Dafür braucht es tatsächlich den sozialen Protest, mit dem andere scheinheilig drohen.