: Der Appeal des Körperlosen
Modeerscheinung? Stimmexperimente! Das Theater lässt das wohlartikulierte Wort hinter sich und setzt auf Technologien. Mikroport, Mikrofon und Audioprojektionen haben dabei auf unseren Bühnen einen künstlerischen Umbruch möglich gemacht
VON DANIEL SCHREIBER
Kein Theatertrend wurde in den letzten Jahren mehr gefeiert und verdammt als die Erstürmung der Bühne durch das Videobild. Man erinnere sich nur an die zwiespältige Begeisterung, als Frank Castorf seinen Schauspielern mit Kameras durch die Volksbühne folgte, ihre Bilder auf riesigen Leinwänden zeigte und ihre körperliche Anwesenheit den Zuschauern größtenteils vorenthielt. Die Kontroverse ums Videotheater verdeckte jedoch eine Entwicklung, die zwar weniger auffällig, dafür aber umso nachhaltiger die Bühnen erobert hat. Wie viele Inszenierungen sind heute noch zu sehen, die ohne Mikroports, Mikrofone, digitalisierte Stimmbearbeitungen oder Audioprojektionen auskommen? Mehr noch als der Schauspielerkörper ist die Stimme in den letzten Jahren zum Spielfeld fürs Technologische geworden und ihre nicht mediatisierte, quasi natürliche Variante beinahe schon zu einem historischen Zitat.
Lange als Modeerscheinung und Technikspielerei abgetan, stellt sich rückblickend heraus, dass die Stimmtechnologien einiges im Umgang mit dem Theatertext und in der Anlage der Bühnenfiguren verändert haben. Ja, dass sie vielleicht den Ausschlag für eine grundlegende Revision des Theatersprechens gaben.
So kommt es heute zu Effekten, die noch vor einem Jahrzehnt undenkbar gewesen wären. In „Shatterhand Massacree“ etwa – einer Inszenierung des Amerikaners John Jesurun, der zurzeit mit mehreren Projekten in Berlin, im Haus der Festspiele, gastiert – klingen die Stimmen trotz ihres Ursprungs im Schauspielerkörper, als wären sie etwas zu schnell eingestellte Abspielungen vom Tonband. In der surrealen Geschichte über den bedrohlichen Mikrokosmos einer amerikanischen Kleinfamilie wird die Idee des Tonbands sogar noch ein Stück weitergetrieben. Der am Tisch sitzende Familienvater singt mit eiserner Miene im Playback zu einem psychedelischen Art-Rock-Song. Seine Tochter stimmt mit ein, wendet sich in Zeitlupe an die Zuschauer und bewegt die Lippen stoisch zu ein paar Takten der markant verzerrten Männerstimme – eine beunruhigende Fremdheit.
Der Regisseur, Dramatiker und Bühnenbildner Jesurun war einer der Ersten, die Medientechnologien offensiv in ihre Theaterarbeit einfließen ließen. Immer wieder erzählt er, dass seine elektronischen Stimmspiele anfangs nur eine Art Zufall waren. Als er 1982 nach längerer Beschäftigung beim Fernsehsender CBS einen Film drehen wollte, entschloss er sich kurzerhand, den Film auf der billiger auszustattenden Theaterbühne zu inszenieren. Wie auf einem Filmset, aber ohne diesen zu filmen. Weil eine 60-jährige Schauspielerin Schwierigkeiten mit dem Lernen ihres Textes hatte, nahm Jesurun sie vor den Aufführungen auf Video auf. Fortan unterhielt sie sich auf der Bühne mit ihrer eigenen Fernsehstimme. Was herauskam, war eine inzwischen legendäre theatrale Seifenoper im New Yorker „Pyramid-Club“, einem Treffpunkt für Hipster im damaligen East Village. Die einflussreiche Theaterserie „Chang in the Void Moon“ hat inzwischen 58 Folgen, von denen die letzte bei den Berliner Festspielen uraufgeführt wird.
Jesurun war einer von vielen amerikanischen Theaterkünstlern, die durch Gastspiele in Europa dafür sorgten, dass Stimmtechnologien auch auf den deutschen Bühnen eingesetzt wurden. Die Wooster Group gehörte dazu, deren technokratisches Markenzeichen Stimmen sind, die schillernd im elektronischen Echo ihrer selbst nachklingen. Oder Robert Wilson, der dem Mikroport durch eine geradezu unheimliche Verwendung zum Auftritt verhalf. Er stellte es so ein, dass die Stimmen ihren Ort verloren und aus Lautsprechern im Zuschauerraum erklangen. Richard Foremans Inszenierungen waren in intrikate Soundschleier aus sich wiederholenden Klangschnipseln und Radiowellen gehüllt, durch die Schauspielerstimmen nur als verzagt-vergängliche Echos drangen.
In Deutschland erfuhr die Arbeit mit den Stimmtechnologien in vielen Fällen eine künstlerische Kritik, leider aber auch eine ganz eigene Gründlichkeit. Vor allem das Mikroport eroberte in Windeseile die Bühnen jedes Stadttheaters. Inflationär wird es heute so eingesetzt, als würde es nicht mehr ohne gehen. Allerorten begegnen wir dem Headset mit dem klitzekleinen Mikrofon. Die Kritik ist inzwischen, besonders wenn es um die Schaubühne in Berlin geht, schnell dabei, zu bemerken, dass es nur ein Hilfsmittel für eine Schauspielergeneration sei, die es nicht gelernt habe, auf der großen Bühne zu sprechen. Doch mit diesem schlecht gelaunten Pauschalurteil wird das neue Medium abgehakt, ohne nach seinen inhaltlichen Implikationen zu fragen.
Luk Percevals minimalistische „Andromache“ an der Schaubühne beispielsweise blieb vor allem durch den prägnanten Einsatz des Mikroports in Erinnerung. Neben Jutta Lampes gewohnt aparter Rolleninterpretation stach das unprätentiöse Sprechen ihrer jüngeren Mitschauspieler hervor. Eine neue, für viele provokante Alltäglichkeit entstaubte die klassizistischen Hexameter Racines. Was von einigen Kritikern als schnoddrige Nachlässigkeit aufgefasst wurde, entpuppte sich bei näherem Hinhören als eine Sprachlichkeit, die der Welt außerhalb des Theaters ganz genau auf den Mund geschaut hatte. Mit drastischen Dialogzeilen und der abgeklärten, manchmal etwas nuschligen Intonation von Berliner Mittdreißigern ermöglichte das Mikro ein Sprechen, das auf technologiefreier Bühne nicht hörbar gewesen wäre. Gerade dadurch wurde der antike Kriegsstoff auf eine zeitgenössische Höhe gehievt und seine Implikationen für ein Publikum zum Klingen gebracht, das seinen eigenen Kriegsnachrichten ausgesetzt war.
Letztlich haben die Stimmtechnologien auf unseren Bühnen einen künstlerischen Umbruch ins Laufen gebracht, der nicht nur am ästhetischen Paradigma des schönen Theatersprechens rüttelt, sondern auch unsere Hörgewohnheiten auf neue Art verhandelt. Die durchdesignten Soundscapes vieler heutiger Inszenierungen legen die oftmals überraschende Anachronie unserer Wahrnehmung bloß. Von der simplen Reproduktion und Archivierung menschlicher Stimmen über deren digitale Bearbeitung bis hin zur beinah vollkommenen künstlichen Synthese ist heute fast alles möglich. Trotzdem glauben wir immer noch, verführt vom kulturellen Leitmedium Film, dass Stimmen in einem bestimmten Körper verankert sind, den wir visuell ausmachen können. Theaterstimmen wie die der synchronisierten Schauspielerin in Jesuruns „Shatterhand Massacree“ entlarven diesen Glauben jedoch als eine nur allzu bequeme Fantasie.
Zudem scheint es, als habe infolge ihrer elektronischen Bearbeitungen die Stimme selbst eine neue Bühnenprominenz erlangt. In Pina Bauschs begnadet melancholischer Arbeit „Für die Kinder von gestern, heute und morgen“ etwa überrascht die Stimme der grazilen Tänzerin Nazareth Panadero dunkel, vollleibig und mit rollendem spanischen Akzent. Durch die Lautsprecher vervielfacht und verfremdet, ähnelt diese eher der eines Travestie-Impersonators. In Meg Stuarts Tanzstück „Visitors Only“ kommen die Stimmen, von dumpfen Clubsounds begleitet, als bedrohliche, verzerrte Kreaturen zu Gehör. Und Frank Castorfs Volksbühnen-Evergreen „Erniedrigte und Beleidigte“ gerät zum regelrechten Stimmexperiment, wenn die elektronische Soundübertragung aus dem Bühnenbungalow zusammenbricht und die Schauspielerstimmen in ihrem natürlichen Klang geradezu schockierend affektgeladen zu den Zuschauern dringen. Solche Theaterstimmen geben ein Gespür für die verschiedenen Variationen des Vokalen, für die unterschiedlichen Ebenen, die sich je nach technologischer Bearbeitung fast unmerklich zwischen Hörende und Sprechende schieben. Man fühlt, dass die Gesichter, Gedanken und Emotionen der körperlosen Stimmen immer auch gewissen radiofonen Abnutzungserscheinungen unterworfen sind. Dass die Technologie selbst ihren Einsatz im Stimmspiel hat.
Schließlich lässt sich selbst dort, wo das Mikroport oder die Tonaufnahme keine konkrete Verwendung finden, ihr Einfluss erahnen. Klingen die Schauspielerstimmen in den Theaterserien von René Pollesch nicht so, als wären sie das Ergebnis einer schnellatmigen Mimikry ans Technologische? Im „Shatterhand Massacree“ von John Jesurun, einem der Lehrer Polleschs am Gießener Theaterinstitut, dominiert ein ähnlicher Höreindruck. Durch irritante Sprechdiktion und eine Reduktion von individueller Klangfarbe, Melodiösität und Timbre erlangen die Shatterhand-Stimmen eine geradezu maschinelle Aura. Im Setting der dunklen Black-Box-Bühne mit ihren Videoprojektionen wird nicht nur jeder Lichtstrahl aufs Genaueste eingezirkelt und begrenzt, sondern auch jede stimmliche Äußerung. Das schnelle, minutiös auf den Punkt gebrachte Sprechen der vier Akteure gibt den Sprachfetzen einen nahezu unheimlichen metallischen Klang. Wie Geschosse fliegen Worte und Sätze durch den Theaterraum. Wie ferngesteuerte Redeflüsse humaner Sprechroboter. Die Stimmen geraten dabei zu Skulpturenmaterial, und die sprechenden Figuren zu glänzenden, spiegelglatten Textflächen.
Wer weiß, ob solche Stimmen nicht die Zukunft des Sprechtheaters darstellen. Man wird das Gefühl nicht los, dass es sich bei ihnen um ganz und gar neue Konstellationen aus Stimme, Lärm und Bühne handelt, um ernst zu nehmende Reflexionen auf unsere Körper und Identitäten im kulturellen Sog von Radio-, Fernseh- und Lautsprecherstimme. Für viele Zuschauer mögen sie ein durchaus neuralgisches Potenzial haben. Doch diese Stimmen sind weniger modeorientierte Spielerei denn ein Impuls auf die Entwicklungen unserer medienfokussierten Lebenswelt. Theater war schon immer ein Tonstudio, das den Wandel der Sprache verarbeitete. So mag es vielleicht auch nicht verwundern, dass es jetzt das wohlartikulierte Wort und die klassisch emotionale Stimmvirtuosität immer mehr, und auf manchmal verstörende Weise, hinter sich lässt.