Die Schlacht der Schachteln

Eine ganz besonders ehrliche Haut: Auch in „Coming Home“, seinem Stück über das Training von Soldaten, beweist der Medienkritiker Hans-Werner Kroesinger, dass er der Wahrheit der Schrift und der Dokumente stärker vertraut als den Bildern

VON EVA BEHRENDT

Um aus einer Zigarettenschachtel einen Panzer zu machen, genügen ein Handgriff und ein wenig Fantasie. Dass die Dinger töten, steht sogar schon drauf. Um die propagandistisch inszenierte Befreiung der Soldatin Jessica Lynch auf einer Theaterbühne nachzustellen, braucht es nur eine Armee aus Marlboro- und Lucky-Strike-Schachteln in der Rolle von Ami-Panzern, während Camel die Rolle der Irakis übernimmt. Gotthard Lange, einer der fünf Performer in Hans-Werner Kroesingers Dokumentartheaterabend „Coming Home“, dirigiert und kommentiert den Nikotinfeldzug souverän und doch ein paar Ticks zu ausführlich auf einem tresenartigen Möbelstück, das zusammen mit vier Fitnessbänken und einer schwarzen Box mitten auf der Bühne des HAU 3 steht.

Die Schlacht der Schachteln ist der komödiantisch-minimalistische Höhepunkt von „Coming Home“, einer Art szenisches Essay über das Töten. Genauer: über das Töten der US-Soldaten. Dazu haben Regisseur Kroesinger und sein Dramaturg Tom Mustroph einschlägige Literatur gewälzt, darunter auch „Jarhead“, die Memoiren des Golfkriegsveteranen Anthony Swofford, ausgiebig im Internet recherchiert und die Fundstücke aus Zeitungsarchiven und offiziellen Homepages mit Texten der Dramatikerin Dea Loher zu einer Collage verschweißt. Allerdings dürften weder der schiere Gewaltrausch, in den der Krieg Soldaten zeitweilig versetzt („Fakt ist, es ist fun“), noch die Professionalisierung des Tötens oder die psychischen Erkrankungen der Veteranen samt ihren häufig mörderischen Spätfolgen (der Sniper & Co) den durchschnittlich informierten Zeitgenossen wirklich überraschen.

Noch vor fünf Jahren war Hans-Werner Kroesinger ein ziemlich einsamer Dokumentartheater-Kämpfer an den Fronten des Freien Theaters. Vor dem Hintergrund des damaligen Höhenflugs der Life-Art-Fraktion, die heiter, ironisch und selbstbezüglich mit popkulturellen Inhalten und Formaten hantierte, wirkten Kroesingers unterkühlte Aufklärungsabende zu harten Politthemen in ihrer Ernsthaftigkeit geradezu exotisch. Wenigstens einer, den der Deutsche Herbst nicht nur aus Jubiläumsgründen interessierte, der auf die gute Idee kam, das Protokoll einer UN-Pressekonferenz im Kosovokonflikt einfach wie einen Dramentext zu behandeln.

Inzwischen hat jedoch das Dokumentarische erneut und auf mannigfache Weise Einzug in die Kunst gehalten. Ob in der Literatur (Kempowski, Henschel und Co.), in der bildenden Kunst (wie die letzte Documenta zeigte), im Film (wo der Dokfilm wieder kinotauglich geworden ist) oder eben im Theater: Nach den endlosen Beweisen der Postmoderne, dass sich die Wirklichkeit ja doch nur aus lauter Fiktionsschichten zusammensetzt, hat das Reale wieder gewaltig an ästhetischem Prestige zugelegt. Theatermacher wie Rimini-Protokoll oder Constanza Macras zum Beispiel „beuten“ das Reale mehr oder weniger bewusst aus, etwa, indem sie auf der Bühne von den spezifischen Kompetenzen ausgewählter Laiendarsteller profitieren – seien es Menschen aus dem Berufsfeld Friedhof oder Neuköllner HipHop-Kids – und mit der von ihnen verkörperten Authentizität spielerisch umgehen. Neben ihnen wirkt Hans-Werner Kroesinger wie eine besonders ehrliche Haut: Als Medienkritiker alter Schule glaubt er letztlich an die Wahrheit der Schrift (der Dokumente), und nicht an die der Bilder.

Und so bleibt Judica Albrecht, Armin Dallapiccola, Godehard Giese, Gotthard Lange und Uwe Schmieder die etwas undankbare Aufgabe, als Sprachrohre der geballten Doku-Collage zu dienen. Mal jovial moderierend, mal militärisch gedrillt, aber immer so ungerührt wie möglich. Meistens schön abwechselnd, manchmal im Chor. Weil es dabei doch ziemlich statisch zugeht, müssen zwischendurch die Fitnessbänke choreografisch über die Bühne gehievt werden. Ob das aggressiv machen soll? Und wenn ja, die Darsteller oder das Publikum? Dann schon eher das Artilleriefeuer in Originallautstärke, das für Momente in der Blackbox tobt und Brustbeine vibrieren lässt.

Im Programmheft liest man später verblüfft: „Insgesamt 26,4 Millionen US-Amerikaner sind Kriegsveteranen. Das sind fast neun Prozent der Bevölkerung. Unter den ca. zwei Millionen US-Amerikanern, die im Verlauf eines Jahre ohne Obdach sind, befinden sich ca. 500.000 Kriegsveteranen.“ Amazing. Was aber das Theater mehr und besser kann als eine gründlich recherchierte TV-Reportage oder ein intelligenter wissenschaftlicher Aufsatz, lässt sich an diesem Kroesinger-Abend beim besten Willen nicht beantworten.

17.–20. 12., 20 Uhr, HAU 3, Tempelhofer Ufer 10