: Dem Braten trauen lernen
Wolfsburgs Keeper Simon Jentzsch darf Mitte Dezember erstmals für die Nationalelf zwischen den Pfosten stehen. Beim 1:2 in Leverkusen wurde deutlich, warum er diesem Erfolg noch nicht ganz traut, genauso wenig wie den Erfolgen mit Wolfsburg
von Erik Eggers
Die Kunde kam per Kurzmitteilung. Dass ihn Jürgen Klinsmann als dritten Torhüter für die bevorstehende Ostasienreise nominiert hatte, erfuhr Simon Jentzsch am Donnerstag per SMS, von seinen Freunden. Die Reaktion des 28-Jährigen? Fiel nüchtern aus und still, wie immer. Luftsprünge oder rhetorische Steilvorlagen waren von dem als introvertiert geltenden 1,96m-Hünen ohnehin nicht zu erwarten. „Natürlich freue ich mich, aber ich konzentriere mich allein auf das Spiel gegen Leverkusen“, sagte er am letzten Donnerstag. „Ich konzentriere mich jetzt auf das nächste Heimspiel gegen Bielefeld“, sagte er nach dem Leverkusenspiel, noch gefrustet vom späten Treffer bei der 1:2-(1:0)-Niederlage. Das nennt man Lakonie. Mehr jedenfalls war von ihm zum Thema Nationalmannschaft nicht zu erfahren.
Traut der Mann aus dem Perspektivkader für die WM 2006 diesem Aufstieg nicht? „Ich schaue generell nicht weit in die Zukunft, damit bin ich bisher immer gut gefahren“, vertraute er kürzlich dem Fachblatt „kicker“ an, als der diesjährige Erfolg des VfL Wolfsburg mit seiner Figur verbunden wurde. Denn „dafür, wie schnell es hoch und runter geht, bin ich ja das beste Beispiel“.
Schon zu oft hat er die Unbilden des Profisports erlebt. Häufig schaute er nur zu – so zwischen 1995 und 2000 beim Karlsruher SC, als Claus Reitmaier zwischen den Pfosten stand. Sodann beim TSV 1860 München rühmten viele zwar seine Qualitäten auf der Linie, aber ebenso viele bemängelten seine wenig ausgeprägte Präsenz auf dem Spielfeld. Und auch in seiner ersten Saison beim VfL Wolfsburg, wo er seit 2003 sein Geld verdient, nahm ihn Jürgen Röber aus dem Tor und ersetzte ihn durch Ramovic, der wie Vorgänger Reitmaier beliebter war beim Publikum. Eine scheue Seele wie Jentzsch hat es schwer bei den Zuschauern, auch wenn sein Naturell dem norddeutschen Typus doch eigentlich entgegenkommen sollte.
Insofern begann Jentzsch auch sein 141. Bundesligaspiel mit der gleichen Unaufgeregtheit. Und hatte zunächst, obwohl seine Mannschaft in der 4. Minute in Führung ging, nur wenig zu tun, da die beiden Innenverteidiger Schnoor und Quiroga die gegnerischen Stürmer Berbatov und Woronin zunächst neutralisierten. Oft marschierte Jentzsch also auf der Strafraumlinie hin und her, um wenigstens nicht völlig auszukühlen. Aber wenn ihn die hoch gelobte Leverkusener Offensive einmal forderte, zeigte er Präsenz. Eine Kopfballverlängerung von Juan nach Ponte-Freistoß (14.) hielt er sensationell, als er den Ball, blitzschnell auf den Boden fallend, noch um den Pfosten drehte. Auch den Schlenzer von Woronin aus 20 Metern wehrt er im Stile eines Klassemanns ab.
So perfekt die ersten 45 Minuten verliefen, so furchterregend begann der zweite Abschnitt – aus Sicht von Jentzsch. Als Woronin nach Berbatov-Zuspiel allein auf ihn zustürmte, kam er nicht rechtzeitig an den Ball, und Woronin lupfte ihn locker aus zehn Metern über Jentzsch hinweg – nur 14 Sekunden nach Wiederanpfiff stand es 1:1.
Das Hinauslaufen und die Strafraumbeherrschung bei Standards wird, neben den technischen Fähigkeiten am Ball, ihm gemeinhin als Schwäche angekreidet, doch in diesem Fall machte dem Keeper keiner einen Vorwurf. Und oft genug bügelt Jentzsch seine Fehler dann mit seiner Reaktionsfähigkeit ja auch auf der Linie aus – ganz wie einst der englische Torwartheros Peter Shilton, das große Vorbild des gebürtigen Düsseldorfers.
Auch nach dem Ausgleich parierte er alles, was zu halten war – unter anderem einen platzierten 30-Meter-Fernschuss Pontes. Das 1:2 durch den Kopfball Francas kurz vor Schluss war für ihn unhaltbar. „Man hat heute wieder gesehen, dass seine Nominierung gerechtfertigt ist“, lobte ihn Trainer Erik Gerets, der Jentzsch immer wieder auffordert, doch lauter seine Vordermänner zu postieren. An diesem Nachmittag befolgt Jentzsch diesen Rat auch nach dem Abpfiff, als die fünfte Auswärtsniederlage des VfL Geschichte ist. Nachdem er vom Rasen geschlichen ist, spart er nicht mit Kritik an seinen Kollegen: „Wir haben in den entscheidenden Momenten die Tore kassiert, das darf nicht passieren.“ Er hatte Recht, dem Braten nicht zu trauen. Zumindest vorerst.