Pop avant la lettre

Daniel Barenboim dirigiert Georges Bizets „Carmen“ an der Staatsoper Unter den Linden. Auch wenn die vier Akte des Riesenwerks zu viel Eisnebel abbekommen, so beginnen sie doch zu schweben, als seien sie aus Tüll und Seide

Schade, dass der Brauch aus der Mode gekommen ist, auch in der Oper Zugaben zu erklatschen. Die Premiere von Daniel Barenboims „Carmen“ wäre endlos lang geworden. Sie folgt natürlich der Partitur von Georges Bizet, ist aber doch Barenboims „Carmen“, weil all diese Ohrwürmer nicht so schlimm daherkommen, wie man sie aus dem Wunschkonzert zu kennen glaubt. Nichts mehr davon ist zu hören, für Barenboim ist das allerfeinster, französischer Pop von 1875. Damals soll er den Parisern übrigens gar nicht so besonders gut gefallen haben, steht im Lexikon, aber das lag wahrscheinlich daran, dass diese Welthits nicht von Anfang an richtig dirigiert worden sind. Vielleicht nahm man sie zu ernst, weil ja immerhin Prosper Merimés sozialkritische Novelle dahinter steckte, vielleicht hat man echte Gefühle gesucht, wo nur Melodien sind, oder sogar eine Tragödie, obwohl die Machart doch schon immer der opéra comique entsprach.

Barenboim jedenfalls nimmt die Vorlage so, wie sie ist, sucht nichts darin, was dort nicht ist, nimmt sie mit federnder Eleganz und lächelndem Augenzwinkern, und schon beginnt dieses Riesenwerk von vier Akten zu schweben, als sei es aus lauter Tüll und Seide. Was damals eben gerade cool war in der Musik, flotte Märsche, spanische Kastagnetten, Zigeunerlieder – und die Habanera. Kann man das noch hören? Man kann, wenn die Russin Marina Domaschenko dazu ansetzt: überraschend leise, fast beiläufig über das rhythmische Korsett des Tanzes hinweg singend, um dann endlich doch den vollen Klang ihrer großen, ein wenig rauen Stimme auszukosten: „L'amour …“. Erster Szenenapplaus, und wenn wir nicht in der Staatsoper wären, hätte sie das mindestens noch dreimal singen müssen.

Aber es geht weiter, es steht so im Text, der ein lyrisches Paar vorsieht, das sich nicht kriegt: Michaela und Don José. Dorothea Röschmann und Rolando Villazón singen diese Rollen zum ersten Mal, und so, wie sie das tun, reichte es wohl auch schon für einen kompletten Abend. Leider hat Dorothea Röschmann nur zweimal Gelegenheit, mit ihrem beweglichen, fein nuancierten, wenn nötig aber auch durchdringend strahlenden Sopran die Nebenrolle der enttäuschten Braut zu gestalten – und nach ihrem Duett mit Villazón fällt es schwer, den Beifall gerecht zu verteilen. Denn auch Villazón macht alles richtig. Zwar klingt sein Tenor gelegentlich etwas unbeherrscht, strahlt aber in den schwierigsten Höhen schon einen solchen Glanz aus, dass die Starkarriere des jungen Mexikaners völlig außer Frage steht. Mehr davon bitte, auch mehr von diesem leichtfüßig komödiantischen Staatsopernchor, mehr auch von dem ebenfalls jungen Hanno Müller-Brachmann, der aus dem Liedfach kommt, hier aber einen prachtvollen Torero singt – nur: Was hat ein Torero in diesem Gesangswettbewerb überhaupt zu suchen?

Eigentlich nichts. Das einzige Problem dieser „Carmen“ von Daniel Barenboim ist, dass sie eine Handlung hat, daher eben doch eine Oper ist, und nicht nur eine historische Revue von Evergreens der Popmusik aus einer Zeit, bevor es dieses Wort gab. Barenboims Regisseur Martin Kusej hat sich zusammen mit dem Bühnenbildner Jens Kilian wenig Mühe gegeben, das Drama eines Soldaten und einer Zigeunerin in Bilder zu setzen. Weil den beiden außer klotzigen Betonbauten und einem Wasserturm fast nichts einfiel, haben sie die Szene hauptsächlich in Eisnebel eingehüllt. Der Geruch stört selbst im Saal. Für die Sänger muss er schrecklich sein, und wenn alles vorbei ist, weiß man immer noch nicht, ob dieses Stück nun die Tragödie eines schwächlichen Mannes oder einer freizügigen, sexuell emanzipierten Frau ist. Tot sind sie schließlich alle, symbolisch (und im Libretto nicht enthalten) wird der arme José gleich nach der Ouvertüre hingerichtet, und am Ende trägt der Chor auch noch den Torero tot von der Szene. Was soll’s: Barenboim holt zum Schlussapplaus die Staatskapelle auf die Bühne, die ja in der Tat eine viel wichtigere Rolle spielt als der Regisseur. Barenboim lacht, die ganze Truppe ist bester Laune, denn es ist Showtime und könnte immer so weitergehen mit guter Tanzmusik und schönen Liedern.

NIKLAUS HABLÜTZEL

Nächste Aufführungen: 7., 11., 19., 22., 26. Dezember