Mit Sex zur Erlösung

Das gute alte „Kamasutra“ ist in neuer Übersetzung erschienen: lesbarer und neu kommentiert. Betont wird nun auch die aktive Rolle der Frau

VON EDITH KRESTA

Indien, Hippies, freie Liebe und ein immer noch klein wenig anrüchiger Klang – diese Assoziationen löst das „Kamasutra“ bis heute aus. Die Scham mag vorbei sein, doch die indische Liebestechnik entlockt noch jedem ein verschämtes Schmunzeln. Nun ist sie in einer neuen Übersetzung des indischen Psychoanalytikers Sudhir Kakar und der amerikanischen Religionswissenschaftlerin und Sanskritologin Wendy Doninger erschienen.

Und: Verrucht kommt es heute ganz gewiss nicht mehr daher. Es hat weder einen pornografischen Anklang, noch ist es geil. Auch bietet es keine neuen, umwerfenden Techniken. Jede RTL-Show liefert Tipps und Tricks für Liebhaber, jede Mädchenzeitung propagiert abwechslungsreiche Stellungen im Liebesakt, für die das Kamasutra bis in die Sechzigerjahre unter dem Ladentisch gehandelt wurde. Eine Neuübersetzung war also fällig. In der Übersetzung von Richard Schmidt aus dem Jahr 1893 standen die heißen Stellen noch auf Latein. Lange her, als das alles noch schockierte.

„Es war ein Schock, der gewollt war“, sagt Sudhir Kakar. Der erste Übersetzer, der das „Kamasutra“ aus dem Sanskrit ins Englische übertrug, war Richard Burton. Ein Abenteurer, der auch die „Geschichten aus 1001 Nacht“ übersetzte. „Die ersten Übersetzer wollten die Erotik von der christlichen Moral befreien. Sie haben die Fremdheit des ‚Kamasutra‘ benutzt, um das eigene Projekt einer erotischen Emanzipation in Europa anzufangen“, meint Kakar. Heute würden, fügt er hinzu, die alten Abbildungen von kopulierenden Paaren allerdings wie Mickymaus wirken.

„In Keuschheit und höchster Versenkung“ soll Vatsayana Mallanga das „Kamasutra“ im 3. Jahrhundert in Indien geschrieben haben. Es handelt im Wesentlichen vom Verhältnis zwischen Mann und Frau. Deren Rangordnung ist klar: Die Frau hat dem Mann zu dienen, auch als Objekt seiner Begierde. Und das „Kamasutra“ ist ein Wegweiser durch den Dschungel dieser Begierden. Nicht Maßlosigkeit ist seine Botschaft, sondern die Kunst des Genusses. Das „Kamasutra“ ist aus der Perspektive eines reichen Mannes geschrieben. Ein Nachschlagewerk nicht für die schnelle Befriedigung oder für akrobatischen Sex, sondern für verfeinerte Erotik und gegen die sexuelle Langeweile. Der Psychoanalytiker Sudhir Kakar verwendet dann im Gespräch noch ein zunächst befremdliches Wort: Für ihn ist das „Kamasutra“ auch ein Weg zur Erlösung.

Das Kamasutra sei, erklärt er, in der hinduistischen Religion verankert. Diese gehe davon aus, dass ein Mensch drei Ziele habe: den geistigen Bereich – Moral und Religion; den materiellen Bereich – Macht und wirtschaftliches Wohlergehen; den körperlichen Bereich. Alle drei Bereiche müssen harmonieren, um dem vierten Ziel, der Erlösung, nahe zu kommen. „Man kann nicht eines abschneiden, denn was abgeschnitten wird, wird immer zurückkommen“, sagt Kakar. „Die hinduistischen Tempel sind so gebaut, dass die äußere Wand mit in Stein gemeißelten Kamasutra-Darstellungen verziert ist. Man muss durch diesen Bereich gehen, bis man zur Erlösung ins Heiligste im Inneren des Tempels kommt.“

Das Bild, das „Kamasutra“ vom alten Indien vermittelt, ist sehr beschränkt und stilisiert. Es ist das Leben eines reichen Dandys: Der wird im ersten Buch selbstständig, im zweiten Buch schult er sich in der Liebe. Das ist das berühmte Buch der Stellungen, mit dem das „Kamasutra“ seinen Siegeszug durch die erotische Literatur antrat. Im dritten Buch lernt er, um eine Jungfrau zu werben, sie zu verführen. Im vierten Buch geht es um die Ehe und die Ehefrau. Im fünften Buch wird der Seitensprung und die Verführung anderer Ehefrauen verhandelt. Das sechste Buch beschäftigt sich mit den Kurtisanen. Schließlich beobachtet das siebte und letzte Buch das Nachlassen der Manneskraft und bietet die geeigneten Gegenmittel. Somit beschreibt das „Kamasutra“ idealtypisch die Stationen eines Männerlebens in sieben Akten.

Und trotzdem wirbt die neue Übersetzung mit einer anderen Rolle der Frau. Dafür steht die Religionswissenschaftlerin und Sanskritologin Wendy Doninger. Die neue Übersetzung ist nicht nur lesbarer und neu kommentiert, sie hat auch die aktive Rolle der Frau in einer nichtsdestotrotz patriarchalen Gesellschaft herausgearbeitet. Beispielsweise mit Ratschlägen, wie sie einen lästigen Liebhaber loswird: „Sie tut Dinge für ihn, die er nicht wünscht, und wiederholt Dinge, für die er sie kritisiert hat. Sie kräuselt die Lippen und stampft mit dem Fuß auf den Boden. Sie spricht über Dinge, von denen er nichts versteht.“

Von Askese und Meditation ist im „Kamasutra“ nichts zu lesen. Wie verhält sich die asketische Lebensweise des Hinduismus zu diesem erotischen Ratgeber für den Mann? „Das stand immer in einem dialektischen Verhältnis“, erläutert Kakar. „Zwischen dem 3. und dem 11. Jahrhundert hatte das Erotische die Oberhand, nach dem 11. Jahrhundert kam das Asketische.“ Besonders stark war diese dann in der Kolonialzeit, im 18. und 19. Jahrhundert. Die Engländer mit ihrer viktorianischen Prüderie und die asketische Ideologie, die innerhalb Indiens gepflegt wurde, haben sich zusammengetan. Das „Kamasutra“ wurde verdrängt.

Wie ist das Verhältnis in Indien heute zu dieser Liebeslehre? „Es ist eigentlich ein schwieriges Verhältnis“, weiß Kakar, der in Goa lebt. „Das ‚Kamasutra‘ wird wie ein nicht gesellschaftsfähiger, verrufener Onkel behandelt, den man nicht vorführen kann. Ein bisschen schämt man sich.“

Mag sich ein Europäer nach der sexuellen Befreiung noch so abgeklärt zum „Kamasutra“ äußern, für den Inder Kakar ist es nicht nur ein Zeugnis von entwickelter Kultur und verfeinerten Sitten zu einer Zeit, da man in Europa brachialen Bräuchen frönte. Bis heute hat es als kulturelles Erbe Sprengkraft im verklemmten Indien, wo Hindu-Fundamentalisten zum Beispiel Sturm gegen einen Bollywood-Film mit lesbischer Liebe laufen.

„Kamasutra“. Neu übersetzt und kommentiert von Wendy Doninger und Sudhir Kakar. Wagenbach Verlag, Berlin 2004, 320 Seiten, 32 €