: Religion jenseits der Kultur
Der französische Sozialwissenschaftler Olivier Roy erklärt die Krise des multikulturellen Modells in Europa mit der Krise eines globalisierten und daher dekulturierten Islam. Er fordert eine Entkopplung von Religion und Kultur
INTERVIEW DOROTHEA HAHN
taz: Herr Roy, nach dem Mord an Theo van Gogh in den Niederlanden begann in Deutschland eine aufgeregte Debatte. In Frankreich nicht. Wie erklären Sie diese unterschiedlichen Reaktionen?
Olivier Roy: Es gibt in Europa zwei ganz verschiedene Modelle im Umgang mit dem Islam. Beide sind aus dem Umgang mit der Einwanderung hervorgegangen. Das französische Modell ist assimilationistisch. Es geht davon aus, dass Einwanderer Individuen sind und nicht Gemeinschaften. In diesem französischen Modell ist der Zugang zur Nationalität leicht. Im Norden Europas gibt es die multikulturellen Modelle. Darin ist der Einwanderer durch eine Gruppe definiert, in der er eine Identität zwischen Kultur, Religion und Sprache hat. Er bleibt ein Ausländer. Selbst dann noch, wenn er schon Bürger geworden ist.
In Deutschland ist multikulturell aber ein relativ neuer politischer Begriff …
Als Erfindung einer gewissen Linken. Danach muss man die anderen Kulturen akzeptieren. Ihnen helfen, stärker zu werden. Ihre Sprache zu verbreiten, eigene TV-Sender zu haben. In Holland gibt es einen TV-Kanal mit dem Namen: „Holländischer Muslimischer Kanal“. In Frankreich existiert das nicht. Da heißt der einzige Fernsehsender „Beur TV“ und nicht etwa: „Arab-TV“. Ein „Beur“ ist ein integrierter Muslim.
Im Französischen benutzt man den Begriff multikulturell nicht?
Die Franzosen haben ein negatives Bild davon. Also nennen sie es Kommunitarismus. Das ist ein negativer Begriff.
Wie steht es um das multikulturelle Modell?
Es ist in der Krise. Aus dem einfachen Grund, dass die muslimische Identität heute immer weniger kulturell ist. Die Holländer beklagen sich, dass die Muslime nicht Holländisch lernen. Aber das Problem ist, dass jene, die Probleme machen, längst Holländisch können. Der Mörder von Theo van Gogh ist Holländer. Er spricht holländisch. Es handelt sich nicht um den Import einer Gruppe, die Probleme macht. Das Problem ist vielmehr die Dekulturierung des Islam. Die Globalisierung des Islam.
Dekulturierung?
In der ersten Einwanderergeneration sind Kultur, Sprache und Religion ein und dasselbe. Das ist bei der zweiten und dritten Generation natürlich anders. Für sie ist die Kultur des Großvaters eine Bauernkultur.
Trotzdem ist gerade in der zweiten und dritten Generation der Islam attraktiv.
Aber nicht der Islam des Großvaters. Die Jungen konvertieren zum Fundamentalismus. Der Großvater hingegen trinkt Wein und fragt im Restaurant nie, ob das Fleisch „hallal“ ist.
Warum versuchen diese Jungen nicht, in der Kultur und Religion der Einwandererländer aufzugehen?
Sie sind dekulturiert gegenüber der Herkunftskultur und nicht integriert in die Kultur des Landes, in das sie emigriert sind. Der Fundamentalismus liefert ihnen dafür eine Rechtfertigung. Der Prediger sagt ihnen: Du hast den Islam deines Großvaters verloren? Umso besser! Das ist ein schlechter Islam! Du fühlst dich nicht westlich? Du bist Muslim! Du fühlst dich nicht marokkanisch? Deine Identität ist global! Du bist kein Holländer, kein Marokkaner, kein Franzose! Dieser Islam gibt ihnen eine globale Wesenheit. Sie sind in einer virtuellen Welt.
Werden wir es in Europa langfristig mit dem Fundamentalismus zu tun haben?
Der Islam wird natürlich dauerhaft in Europa bleiben. Der Salafismus, der Fundamentalismus, hingegen ist ein Generationsphänomen.
Salafismus?
Das ist der saudische Wahhabismus, eine buchstabengetreue Version des Islam. Man beachtet nur, was im Koran steht. Es ist eine Version des Islam, in der die Kultur der Feind ist. Sie wird als Ablenkung und als Korruption der Religion verstanden.
In Saudi-Arabien hält sich der Salafismus aber schon ziemlich lange.
In Saudi-Arabien gibt es eine Gesellschaft, einen Staat, einen Klerus. Der saudische Salafismus ist Teil der saudischen Wesenheit. Auch wenn da viel Heuchelei mitspielt und die meisten Saudis – allen voran die königliche Familie – die Normen überschreiten. Der Salafismus in Europa ist etwas anderes. Das sind junge Menschen, die sich im Bruch befinden: mit der Gesellschaft und mit der Generation vor ihnen. Mit der Kultur und sehr oft auch sozial.
Wie wichtig ist Europa als Rekrutierungsgebiet für Fundamentalisten?
Wegen der Dekulturierung ist die Rekrutierung im Westen leichter. Aber man sollte nicht Angebot mit Nachfrage verwechseln: Die Leute werden nicht zu Anhängern von Bin Laden, weil dessen Prediger kommen. Sie werden es, weil es eine lokale Nachfrage gibt. Oft wollen die Jungen Kontakt zu Bin Laden haben, sie suchen ihn von sich aus. Nehmen Sie den jungen Franzosen Zacharias Moussaoui, der in den USA in Haft ist. Er ist nach London gegangen, weil er von einer radikalen Moschee gehört hat.
Welche Rolle spielt Europa in der Ideologie islamischer Fundamentalisten?
Den echten Fundamentalisten ist Europa egal, denn sie denken global. Wer sich für Europa interessiert, sind die zentristischen Muslime.
Wer sind diese Zentristen?
Die muslimischen Zentristen wollen Dinge wie Kopftuch, rituelles Schlachten und die Anerkennung ihrer Besonderheiten im Gesetz verankert wissen. In gesellschaftlichen Fragen sind sie sehr nah an den konservativen Katholiken von der CDU: von den religiösen Zeichen in der Schule – Kruzifix und Kopftuch – über die homosexuelle Ehe bis hin zur Blasphemie. Konservative wollen, dass das Gesetz das Heilige schützt.
Obwohl Frankreich eine andere Einwanderungspolitik betreibt, ist auch bei Ihnen der Fundamentalismus verbreitet. Was also ist anders?
Die Interpretation. Die Leute im Norden sehen den Salafismus als einen Ausdruck der muslimischen Kultur. In Wirklichkeit ist er aber ein Ausdruck der Krise der Kultur des Islam. Für mich ist das der Schlüssel zum Verständnis.
Und das haben die Leute in Nordeuropa nicht verstanden?
Die Holländer sind traumatisiert, weil ihr multikulturelles Erklärungsmuster versagt. Je mehr sie über den Mörder von van Gogh erfahren, desto weniger verstehen sie. Wenn van Gogh von einem Mann in Djellaba, der direkt aus Marokko kommt und kein Wort Holländisch kann, ermordet worden wäre, hätte es kein Problem gegeben. Sie hätten gesagt: Schock der Kulturen, Schock der Zivilisationen.
Die Franzosen sind abgeklärter?
Frankreich hat 20 Jahre Vorsprung. Die ersten Attentate im Namen des Islam gab es bereits im Jahr 1985. Seither hatten die Polizei, die Politiker und die Intellektuellen Zeit, sich vorzubereiten. Der zweite Vorteil von Frankreich ist eine komplexe und fusionelle Beziehung zwischen Franzosen und Einwanderern. Die Einwanderer kommen aus Exkolonien, also sprechen sie oft Französisch. Sie sind Teil unserer Geschichte, und wir sind Teil ihrer Geschichte – inklusive einiger Gewalt allerdings, aber man kennt sich. Wir haben im Übrigen auch mehr gemischte Paare.
Das französische Modell funktioniert aber auch nicht besonders.
Das sieht man in den Vorstädten. Das assimilationistische Modell funktioniert, wenn es einen sozialen Aufstieg gibt. Wenn nicht, dann gibt es kommunitaristische Rückzüge. Beide Modelle – das Assimilationistische und das Multikulturelle – sind in der Krise.
Was ist der Ursprung der Probleme zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Bevölkerungen?
Die Einwanderer der zweiten und dritten Generation leben in allen Ländern Europas in armen Stadtteilen mit viel Arbeitslosigkeit und mit vielen Kindern. Dort ist die Delinquenz einfach höher als anderswo, das ist das Problem. Wenn der junge Delinquent anders ist, benutzt man diesen Unterschied, um daraus das Problem zu machen. Man hat den Islam als Erklärungsfaktor benutzt. Heute sagt man: Das Problem in den Vorstädten ist der Islam. Das ist Quatsch. Es hat immer Probleme in den Vorstädten gegeben. Man muss die Fragen voneinander trennen, also die Frage der Religion von den durchaus realen sozialen Problemen, die mit der Einwanderung zusammenhängen.
Welche Antworten muss es gegenüber dem Fundamentalismus geben?
Das Erste ist die Sicherheit. Die intelligente Sicherheit mit Polizei und Nachrichtendiensten.
Sie wollen das Problem des islamischen Fundamentalismus der Polizei überlassen?
Für junge Menschen, die zur Gewalt übergehen, ist die Polizei die richtige Antwort. Denn man wird nie ganz verhindern können, dass gewisse junge Menschen unter gewissen Umständen zur gewalttätigen Aktion übergehen – denken Sie an die Baader-Meinhof-Gruppe. Es gibt keine politische Formel, um das komplett zu verhindern. Aber es ist wichtig, die Radikalen von ihrer sozialen Basis zu isolieren. Diese jungen Menschen in der muslimischen Bevölkerung müssen isoliert werden.
Sie vergleichen die Baader-Meinhof-Gruppe mit islamischen Fundamentalisten?
Baader-Meinhof und Action Directe betrieben Propaganda durch Aktionen, um die Massen zu mobilisieren wie Bin Laden. Er benutzt die Logik der Ultralinken der 70er-Jahre, diese Genealogie ist offensichtlich. Solidarität mit den arabischen Völkern? Wer hat das denn in den 70er-Jahren in der Bekaa-Ebene erfunden?
Damals war es eine soziale Ideologie, heute eine religiöse.
Das war neomarxistische Phraseologie. Und Bin Laden spricht von der Umma.
Gibt es denn auch institutionelle Lösungen?
Für mich ist der französische Muslimrat der richtige Weg. Eine Instanz also, die den Islam als eine religiöse Einheit repräsentiert und die nicht ethnisch-kulturell ist. Daran haben französische Regierungen seit fünfzehn Jahren gearbeitet.
Die Mehrheit der Einwanderer in Frankreich erkennt sich aber in dem Muslimrat nicht wieder.
Umso besser! Es wäre störend, wenn der Muslimrat zum Sprecher der Einwanderer würde. Man muss die Religion von dem Kulturellen abkoppeln. Der islamistische Radikalismus ist eine Konsequenz der Trennung von Religion und Kultur. Man muss in Europa einen autonomen Platz für die pure Religion schaffen, der weder mit der Einwanderung noch mit Sozialem oder Politik verbunden ist.