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Archiv-Artikel

Bekokste Seitenlinien am Tivoli

In der kuriosen 2. Liga taumelt Alemannia Aachen zwischen Aufstiegshoffnungen und bizarren Skandalkaskaden. Gegen den Karlsruher SC passte Generalbundesanwalt Kay Nehm persönlich auf

„Atmosphärisch wäre die Bundesliga-Rückkehr eine Art Wiederaufstieg seit dem Niedergang 1970“

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Es war nichts mit Alemannias 7. Heimsieg in Folge, gegen den Karlsruher SC. Und somit auch nichts mit der erneuten Tabellenführung. Das Match war geprägt von gegenseitigem Respekt, der zuletzt alles überragende Kalla Pflipsen abgemeldet, die Chancen halt mal nicht genutzt. „Eine ganz neue Erfahrung“, machte Trainer Jörg Berger nach dem 0:0, „zuhause torlos“.

Derzeit weiß man ohnehin nicht, ob man auf dem Tivoli überhaupt ein reguläres Fußballspiel gesehen hat. Seit November sind Jubelfeiern unter Vorbehalt. Beim 2:0 gegen Bielefeld torte ein gewisser Daniel Gomez, dann stellte sich heraus, er hatte nach der heimlichen Behandlung bei einem belgischen Pferdedoktor ein falsches Kortison in den Beinen – Doping. Beim nächsten Heimspiel, dem 1:0 gegen Nürnberg, flogen Feuerzeuge und Bierbecher; Club-Coach Wolfgang Wolf wurde am Kopf getroffen und vom Platz geführt – eine erhebliche Benachteiligung, urteilte der DFB. Die Begegnung wird am 26.1. als erstes Geisterspiel im deutschen Profifußball wiederholt.

Alemannia Aachen spielt manchmal begeisternden Fußball. Aber der Verein scheint das Chaos wie ein Magnet anzuziehen. Die „Aachener Zeitung“ fragte schon, ob beim Printenclub „immer nach dem Skandal schon wieder vor dem Skandal ist“. Und die Fans? „Leidensfähigkeit ist ihr Markenzeichen.“ Und oftmals Unbeherrschtheit. Nach dem Nürnberg-Spiel wurden rundum acht Meter hohe Fangnetze angebracht. Gegen Karlsruhe saß Deutschlands oberster Strafverfolger, der Karlsruher Generalbundesanwalt Kay Nehm, auf der Tribüne. Angeblich als KSC-Fan, nicht als Aufpasser im Skandalstadion.

Auch zuletzt, beim 1:0 gegen Oberhausen, hatte erst der Platzwart vergessen die Rasenheizung anzustellen und dann hatte Erik Meijer mitgespielt. War der Holländer überhaupt spielberechtigt? Meijer hatte gegen Nürnberg zunächst seine 5. gelbe Karte gesehen (automatisch 1 Spiel Sperre) und war danach gelb-rot vom Platz geflogen (dito). Macht 1 und 1 nicht 2? Die Alemannia-Geschäftsstelle klärt auf: Meijers Mitwirken sei zwar „von der Logik schwer zu verstehen“, aber statutengerecht: er habe die eine Sperre abgesessen und sei weiter mit vier Karten vorbelastet. Hoffentlich sieht das der DFB auch so.

Halbzeit in Liga 2. Die Teams neigen dazu, sich ständig kreuz und quer gegenseitig zu schlagen – so wie auch am Mittwoch: Trier, der Letzte, zu zehnt gegen Mainz 1:0. Und Unterhaching gegen Aue 1:2. Nichtkonstanz als Konstante: Wer will da in der 1. Liga bestehen? Alemannia?

Niemand hatte die meist schwarz gekleideten „men in black“ vor der Saison auf der Liste. Sportdirektor Jörg Schmadtke, früher Torwart von Fortuna Düsseldorf, hat ein Auge für Amateure, die oft und schnell zu Leistungsträgern werden. Schmadtke lockte auch den federfüßigen U-21-Stürmer Emmanuel Krontiris auf Leihbasis von Dortmund nach Aachen.

Und jetzt Bachirou Salou. Der 33-jährige Ex-Duisburger war in der Landesliga abgetaucht und hat jetzt unbemerkt von der Öffentlichkeit unterschrieben. Schmadtke sagt: „In Aachen wird das Wir-Gefühl gelebt. Alemannia ist inzwischen eine solide Adresse, bei der ein Wort gilt – in der Szene nicht unbedingt üblich.“ Erik Meijer merkt an, er sei vor allem wegen Schmadtke vom HSV nach Aachen gekommen. „Bundesliga-Angebote hatte ich auch. Und die waren besser.“

Nur für Seuchenfälle bleibt Aachen allererste Adresse. Wo sonst ist mal der Präsident über Nacht verschwunden (1984), ein ander mal (1988) der Geschäftsführer auf der Jahreshauptversammlung tot umgefallen, als Kritiker Beweise für Kartenmanipulationen auftischen wollten? Wo anders ist (1998 beim Pokalmatch gegen Mannheim) ein zweiter Ball beim Elfmeterschuss auf den Platz geflogen? Wo sonst war öfter vom Konkurs die Rede (fast jährlich), wo wurden (2000/01) sechsstellige Ablösesummen cash gezahlt, wo gar keine fällig war und vom Geschäftsführer in die eigene Tasche gesteckt? Wo lief je ein Brachialpädagoge wie Eugen Hach als Trainer auf den Platz (Mai 2000) und würgte einen gegnerischen Spieler krankenhausreif - was ihm mit drei Monaten Sperre das längste Trainer-Berufsverbot ever einbrachte? Als erst 1999 Aufstiegstrainer Werner Fuchs beim Waldlauf tot zusammen brach und drei Jahre später Kollege Jörg Berger an Darmkrebs erkrankte, sprach man schon vom „Fluch überm Tivoli“.

Was mag den Vereinsfreunden noch bevorstehen? Vielleicht kommt die Elf beim nächsten Auswärtsspiel nicht an, weil unterwegs der Busfahrer alkoholisiert ohne Führerschein erwischt wird. Nächstens geht am Tivoli wegen ausstehender Stromrechnung mitten im Spiel das Flutlicht aus, worauf das neue emsige Präsidium mit Grableuchten als leuchtende Vorbilder am Spielfeldrand steht. Aus Versehen laufen zwei Torhüter auf oder fünf EU-Fremde. Oder es werden ganz neue Stimulanzien entdeckt: Die Seitenlinien am Tivoli sind bekokst, die Fans werden positiv auf THG getestet und „als akustisches Psychopharmakon überführt“.

Besuche im lauten Tivoli-Kessel, sind Zeitreisen ins Vorgestern. Atmosphärisch wäre die Bundesliga-Rückkehr eine Art direkter Wiederaufstieg seit dem Niedergang 1970. Kenner wissen noch heute, welche Schramme im Eternitdach der Sitztribüne von Christian Breuer aus dem Vizemeisterjahr 1969 stammt und welche vom Mittelfeld-Monster Günter Delzepich aus 87. Hoffentlich hält das altersschwache, bemooste Gemäuer überhaupt die Saison durch. Das Pokal-Viertelfinale gegen die Bayern im Februar wird dann der nächste Härtetest.