: Mord mit Ansage
Vor zehn Jahren sah die Welt zu, wie sich Ruandas Krise zum Völkermord zuspitzte. Heute ist die Elfenbeinküste auf demselben Weg. Doch zum Eingreifen ist es noch nicht zu spät
Völkermorde sind vorhersehbar. Spätestens seit Ruanda 1994 gibt es keine Entschuldigung mehr dafür, Anzeichen eines bevorstehenden Genozids zu ignorieren. Damals gab es zahlreiche Frühwarnungen über die Vorbereitung der Ausrottung eines kompletten Bevölkerungsteils. Aber sie wurden international nicht ernst genommen, weil es niemand für möglich hielt, dass einfache Afrikaner den schnellsten Massenmord der Weltgeschichte begehen.
Das Ruanda von 2003/04 könnte Elfenbeinküste heißen. Das einstige Musterland Westafrikas, seit 2002 im Bürgerkrieg, steuert mit offenen Augen in eine Katastrophe. Und jetzt kann es keine Entschuldigung fürs Wegsehen geben.
Die Ähnlichkeiten reichen bis in die Details. Eine Rebellenbewegung, die von Exilpolitikern in einem nördlichen Nachbarland gegründet wurde, fällt im Staatsgebiet ein. Französische Eingreiftruppen eilen der Regierung zu Hilfe und verhindern vorerst den bewaffneten Umsturz. Es folgen Friedensgespräche, die in einem Abkommen über die Machtteilung enden. Streit um die Postenbesetzung sorgt jedoch dafür, dass die vereinbarte Allparteienregierung ihre Arbeit nicht aufnimmt. Zugleich formieren sich Anhänger der Ideologie, für die der Präsident stand, in Milizen und hetzen gegen jene Bevölkerungsgruppen, die sie als zu entfernende Eindringlinge betrachten. Mit Destabilisierung und Einschüchterung bringen sie den Friedensprozess an den Rand des Abgrunds.
Das war die Situation in Ruanda Anfang 1994, und es die Situation in der Elfenbeinküste Ende 2003. In Ruanda folgte ein letzter internationaler Vermittlungsversuch. Präsident Juvenal Habyarimana reiste zu einem Regionalgipfel nach Tansania, wo das umstrittene Friedensabkommen von Arusha im August 1993 unterzeichnet worden war. Von diesem Gipfel sollte er nicht lebend zurückkehren. Sein Flugzeug wurde am Abend des 6. April 1994 beim Anflug auf den Flughafen der Hauptstadt Kigali abgeschossen, von unbekannten Tätern auf einem Hügel unter Kontrolle der Präsidialgarde, die den Friedensprozess ablehnte. Noch bevor die Nachricht allgemein bekannt wurde, errichteten Gardisten und Milizionäre Straßensperren und begannen mit dem Abschlachten ihrer Gegner.
In der Elfenbeinküste ist dieser Endpunkt noch nicht erreicht. Aber er ist nicht mehr weit entfernt. Gbagbos radikale Anhänger, die in „patriotischen“ Milizen gegen den Friedensprozess mobilmachen und jede Woche stärker werden, wären eines Völkermordes durchaus fähig. Die „Patrioten“ der Elfenbeinküste sind paramilitärische Verbände, zum Teil geleitet von Angehörigen der Sicherheitsorgane. Der Friedensprozess ist für sie Verrat an der ivorischen Nation, denn er bedeutet Aussöhnung mit Landesverrätern. Sie predigen die Rückkehr zum Krieg und die Vertreibung aller Nichtivorer – das sind mehrere Millionen Nachkommen westafrikanischer Einwanderer und für manche Radikalen auch Angehörige jener Ethnien, die es auch in Nachbarländern gibt und die daher als suspekt gelten.
Viele der Milizionäre sind Jugendliche aus den Slums von Abidjan. Aber sie sind kein rein städtisches Phänomen. Es gibt sie auch im zentralivorischen „Kakaogürtel“. Dort lehnen die „Patrioten“ das bisherige produktive Zusammenleben von alteingesessenen Völkern, Zugezogenen aus dem Norden und Zuwanderern aus westafrikanischen Nachbarländern ab, das die Elfenbeinküste zum größten Kakaoproduzenten der Welt gemacht hat.
Der Kakaogürtel ist heute Schauplatz unzähliger ethnischer Vertreibungskriege – das ländliche Pendant zur staatlich organisierten Zerstörung von Immigrantensiedlungen in Abidjan vor einem Jahr. Trotz Friedensprozess ist in der Elfenbeinküste die ethnische Säuberung in vollem Gange – gerade unterhalb des Niveaus, das zu einem internationalen Aufschrei führen würde. Genau wie in Ruanda vor April 1994.
Kein Völkermord ähnelt dem anderen. Es würde die Parallele zu weit treiben, darauf zu warten, dass nun jemand den ivorischen Präsidenten vom Himmel holt und dann geplante Massaker beginnen. Aber es stimmt nachdenklich, dass eine für diese Woche geplante Reise Gbagbos nach Frankreich, wo das umstrittene Friedensabkommen von Marcoussis im Januar 2003 unterzeichnet wurde, aus Sorge um die Stabilität auf nächsten Monat verschoben worden ist. Die „Patrioten“ wittern ja bereits, dass ihr Staatschef dazu gezwungen werden soll, sich zum Friedensprozess zu bekennen und die Radikalen fallen zu lassen. Denn Frankreich hat zwar vor einem Jahr den Vormarsch der Rebellen auf Abidjan verhindert – aber heute sehen die „Patrioten“ Frankreich als Verräter, der die Rebellen schützt. Das ist anders als in Ruanda, aber es verschärft das Problem eher noch, denn die ivorischen Milizen sehen sich nun auch noch als antikoloniale Befreier.
So nehmen die „Patrioten“ das Schicksal des ivorischen Friedensprozesses zunehmend in die eigene Hand. Seit Mittwoch rufen sie zur „Operation ‚Angreifer raus‘“ – einem organisierten Marsch an die Kriegsfront, für den angeblich 108.500 Milizionäre bereitstehen, mit dem Ziel, die Rebellen und ihre mutmaßlichen Anhänger noch dieses Jahr zu vertreiben. Das Besondere daran ist der Versuch, die Milizen landesweit zu organisieren. Selbst wenn die Milizionäre die Kriegsfront nie erreichen, drohen koordinierte Pogrome, die eine neue Qualität im ivorischen Drama darstellen würden.
Völkermorde sind vorhersehbar, aber gerade deswegen sind sie auch vermeidbar. Nichts von alldem muss in der Elfenbeinküste eintreffen, wenn beizeiten die Kräfte gestärkt werden, die sich einer Radikalisierung entgegenstellen. Der leider machtlose Premierminister Seydou Diarra gehört dazu ebenso wie wichtige religiöse Führer und auch die neuerdings in der „Patriotischen Koalition für Renaissance und gegen Straflosigkeit“ (www.cpatri.org) zusammengeschlossenen Intellektuellen. In ganz Afrika warnen Kulturschaffende vor einem „neuen Ruanda“ in der Elfenbeinküste, zuletzt auf dem panafrikanischen Schriftstellerkongress im Tschad im Oktober.
Doch die internationale Diplomatie nimmt das nicht wahr. Sie begrüßt jedes hohle Versprechen der ivorischen Kriegsparteien, ohne einen hochkarätigen Vermittler einzusetzen, den die Kriegsparteien respektieren würden. Eine Regionalisierung der Westafrikadiplomatie, also ein Gesamtkonzept für die Krisen in der Elfenbeinküste, Liberia, Guinea und Sierra Leone, gibt es nicht. Den Kakao der Elfenbeinküste, dessen Export mindestens ebenso kriegsfinanzierend ist wie der von Liberias Tropenholz oder Sierra Leones Diamanten, kauft das Ausland nach wie vor, um dann verwundert festzustellen, dass Waffen in die Elfenbeinküste strömen.
In Ruanda wurde die Weltgemeinschaft 1994 mit den Folgen ihrer dilettantischen Politik konfrontiert. In der Elfenbeinküste 2003/04 sollte sie beweisen, dass die Lektion gelernt worden ist.
DOMINIC JOHNSON