: Auf der Scholle der Freaks
AUS BAT AIN SUSANNE KNAUL
Jaki Morag deutet mit dem Finger durch die Windschutzscheibe auf die Hügel Judäas. „Hier wanderte Abraham mit seinem Sohn Isaak, um ihn in Jerusalem zum Opfer zu bringen“, sagt er. „Das ganze Judentum hängt an dieser Geschichte.“ Eine laute Hupe unterbricht seinen nächsten Satz. Er steht einem Militärjeep im Weg und soll weiterfahren. Morag winkt freundlich – man kennt sich. Wer von Jerusalem kommt, muss auf halber Strecke zwischen Bethlehem und Hebron, kurz vor einem schwer bewachten und mit Betonblocks abgesicherten Militärkontrollpunkt rechts abbiegen. Von dort aus sind es nur noch ein paar Minuten bis zu der jüdischen Siedlung Bat Ain.
„Habt ihr Kleider an?“, ruft Morag an der Treppe zu einem hinter einer Steinmauer verborgenen Wasserbassin. „Ja, nur runter“, kommt es zurück. Ein vielleicht fünf Jahre alter Junge steckt eben sein Hemd in die Hose und rückt die Kippa auf dem Kopf zurecht, während der Vater einen Stapel Teller mit dem kalten Quellwasser putzt, um das Geschirr wieder „koscher“ zu machen. „Araber aus der Umgebung“ hätten die Quelle vor Jahren mit großen Natursteinen eingefriedet, erklärt Morag. Heute kommen die Männer aus Bat Ain täglich einmal zum rituellen Bad in die „Mikwe“.
Sieben jüdische Familien waren es, die Anfang der Neunzigerjahre hier auf den Hügel im Westjordanland zogen. Sie verteilten das ihnen vom Staat überlassene Land zu gleichen Teilen und beauftragten für ihre Häuser nicht palästinensische Arbeiter, wie es sonst fast immer üblich ist, sondern begannen eigenhändig zu bauen. „Nur jüdische Arbeit“, heißt eine Grundsatzregel in Bat Ain, und das macht die Siedlung zur Ausnahme. Schon rein äußerlich: Hier gibt es keine sauberen Straßen und von professioneller Hand angelegte Grünanlagen. Hier stehen keine ordentlichen, mehrstöckigen Neubauten, sondern ein buntes Durcheinander von individuellen kleinen Häuschen, zusammengebauten Wohnmobilen oder aus Holz gezimmerten Hütten.
Die Grundstücke gehen ineinander über. Zäune passen nicht in das Konzept des engen Zusammenlebens. Und nicht in das Bild der Kommune, wo einer einen säuberlichen Gemüsegarten pflegt und direkt daneben der andere vor dem Haus Gerümpel sammelt, alte Farbtöpfe, Hölzer und verrostetes Eisen. Hier eine Hängematte oder alte Matratzen mit bunten Tüchern und Kissen – dort eine bürgerliche Sitzecke, wie bei Morag und seiner Frau Dalia, die zu den Älteren in der Siedlung gehören. Das wilde Patchwork stört keinen.
Die Leute in Bat Ain verbindet, dass sie alle in einem weltlichen Umfeld aufgewachsen sind und nach jahrelanger Sinnsuche die Antwort im Judentum gefunden haben. Viele waren lange Zeit in Indien, sind Künstler, Schriftsteller oder Musiker. Mit ihren bestickten Hemden und ausgefransten Jeans machen sie nach wie vor das Image der „Freaks“ von Bat Ain aus, obwohl die meisten von ihnen schon älter als 50 sind. Es sind nette, gebildete Leute, die ihr Gemüse organisch anbauen, Vegetarier, die die Natur lieben, und die so harmonisch zusammenleben, dass fast die komplette nächste Generation nach dem Militärdienst und vielleicht einer Ausbildung wieder zurückkommt, um eine Familie zu gründen. Jeder wird genommen, wie er ist, unter einer Bedingung: Er muss orthodoxer Jude sein.
„Darüber hinaus sind wir sehr offen, wie jeder seine Religiosität praktiziert“, sagt Motti Karpel, einer der Gründer Bat Ains. Der ehemalige Philosophiedozent an der Universität Haifa unterhält heute ein bescheidenes PR-Büro, gestaltet Werbeanzeigen und bringt einmal im Monat ein Pamphlet der „Jüdischen Führung“ heraus.
Die israelische Gesellschaft befinde sich in einer „Identitätskrise“, sagt Karpel, in einer „Sackgasse“, aus der allein das Judentum herausführen könne. So wie bis vor wenigen Jahren die Kibuzim und die Arbeiterorganisationen eine Art Elite des Volkes bildeten, müsse in Zukunft „eine glaubende Öffentlichkeit“ an der Spitze stehen. Er glaubt an dieses jüdische Konzept, denn das zionistische „schafft mehr Probleme als es löst“, sagt er. Hätte man etwa die Palästinenser im Westjordanland nach dem Sechstagekrieg 1967 zu Bürgern Israels – wenngleich ohne Wahlrecht – gemacht, „dann sähe es heute hier anders aus“, erläutert Motti Karpel.
„Scharon kapituliert vor dem Terror“, steht auf einem der Plakate in seinem Büro. „Unser Problem hat nichts mit den Arabern zu tun“, sagt er, sondern „nur mit uns Juden selbst“. Karpel bezeichnet sich als „ideologischen Vater“ der radikalen Initiative „So Artzeinu“ (Das ist unser Land), deren Aktivisten infolge von Übergriffen gegen Palästinenser oder gewalttätigen Protestkundgebungen wiederholt vor Gericht standen und seit einigen Monaten eine parteipolitische Heimat beim Likud gefunden haben. „Ich bin nicht rechts. Ich bin Jude“, sagt Karpel über sich selbst.
„Wie geht’s eurem Jungen“, fragt er, als Jaki und Dalia Morag ins Büro kommen. Jarden, ihr ältester Sohn, ist vor ein paar Monaten wegen versuchten Mordes zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden. Die Polizei hatte ihn erwischt, als er zusammen mit zwei Freunden aus Bat Ain auf dem Weg zu einer palästinensischen Mädchenschule in Ostjerusalem war, um dort eine selbst gebaute Bombe aus Gas- und Benzinkanistern zu platzieren. Jarden war für den Transport zuständig. Der Sechsundzwanzigjährige hatte sich heimlich die Lkw-Schlüssel seines Vaters genommen.
„Wenn ich gewusst hätte, was er vorhat, hätte ich ihm eigenhändig ins Bein geschossen“, sagt Morag, und Dalia nickt. Aber sie hat auch Verständnis für ihren Sohn. „Wir kriegen in den letzten zwei Jahren Mord und Beerdigungen zum Frühstück“, sagt sie. „Komplette Familien, die wir alle gut gekannt haben, sind erschossen worden oder mit Steinen erschlagen.“ Der Anschlag sollte nur ein Signal sein: „Wenn wir wollen, können wir auch zurückschlagen.“
Zwölf Jahre Haft – dieses Strafmaß steht in keinem Verhältnis zu Urteilen in ähnlichen Fällen noch vor zwanzig Jahren. Damals beschränkten sich die Richter auf zwei bis drei Jahre Gefängnis. „Die Strafe für Mord oder versuchten Mord“, so heißt es in der jetzigen Urteilsbegründung, „muss für Bürger Israels höher sein“, weil sich die früheren Strafmaße als „nicht abschreckend erwiesen haben.“
Morag rechnet damit, dass sein Sohn „in fünf bis sechs Jahren begnadigt werden wird“. An eine abschreckende Wirkung des für sie „wahnsinnigen Urteils“ glaubt Dalia nicht. „Wir sind nicht wie die meschiggenen Juden in Hebron“, sagt sie und meint damit die dortigen extremistischen Siedler. Aber sie ist sich sicher: Wenn Bat Ain geräumt werden sollte, würde sie „alle legitimen Mittel des Widerstands“ einsetzen, auch wenn es bedeutet, dass sie ins Gefängnis müsste.
Morag trägt eine Pistole am Gürtel, aber nur, „weil ich für die Sicherheit verantwortlich bin“. 15 Männer gehören zu seinem „Notfallkommando“. Wenn etwas passiert, muss er nur zwei Knöpfe auf dem Handy drücken, um seine Leute zu alarmieren. In den vierzehn Jahren seit der Gründung Bat Ains habe es aber keinen einzigen Zwischenfall gegeben. Auch nicht in „Bat Ain B“, einem ein paar hundert Meter entfernt liegenden Vorposten der Siedlung, wo fünf Familien vorläufig ohne Strom- und Wasserversorgung in Wohnmobilen leben. „Bis dort unten wollen wir uns in der ersten Stufe ausweiten“, erklärt Morag. Auch ein „Bat Ain C“ gab es schon, dieser Vorposten gehörte aber zu den Siedlungen, die die Regierung vor ein paar Monaten räumen ließ. Morag zeigt sich davon wenig beeindruckt. „Wir bringen unsere Leute bei Gelegenheit wieder hin.“
Bis dahin werden Bäume gepflanzt. Fünfzigtausend hat Keren Hakajemet – eine jüdische Organisation zur Begrünung des Landes Israel – den Siedlern geschenkt. Damit wollen sie die Ausweitung der arabischen Dörfer in der Umgebung verhindern. „Dieser ganze Landstreifen“, sagt Morag und zeichnet mit der Hand einen Halbkreis über die Hügel, „wird araberfreie Zone sein. Wir wollen die Palästinenser hier nicht.“ Doch man solle das nicht missverstehen, schränkt er sogleich ein, wie über sich selbst erschrocken: „Was mein Sohn getan hat, verurteile ich.“