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Archiv-Artikel

Soziale Kampfeinheiten

Luc Boltanski und Ève Chiapello haben eine neue Soziologie der Kapitalismuskritik formuliert. Ihre Studie setzt die Reihe der großen Gesellschaftsanalysen fort, die Pierre Bourdieu und Robert Castel begründeten

von BERTHOLD VOGEL

In diesen Tagen und Wochen des Reformfiebers ahnen es viele und manche bekommen es bereits zu spüren: Der Wohlfahrtsstaat der Daseinsfürsorge, der Statussicherung und der Karriereplanung kommt an sein unwiderrufliches Ende. Jetzt ist Selbstbehauptung gefordert. Den Flexiblen, den Mobilen, den „Networkern“ gehört die Zukunft.

Die ortsgebundenen Familienmenschen, die ihre Karriere und Versorgung auf eine solide Berufsausbildung bauen wollen, die auf Loyalität und Firmentreue rechnen, repräsentieren den Sozialtypus der Vergangenheit. Ihre aufs Kollektive gerichteten Haltungen werden zum „Prekaritätsfaktor“, ihnen droht der soziale Abstieg. Wer so lebt, wer so arbeitet, wer so denkt, der ist den Anforderungen einer beweglichen und stets angespannten Wissensgesellschaft nicht gewachsen. Hier ist Aktivierung gefordert.

Eine individualisierte Ich-AG dagegen, die ohne Rücksicht auf soziale oder lokale Bindungen in Projekten lebt, arbeitet und denkt, markiert die soziale Kampfeinheit, die Erfolg verspricht. Kurzum, in der Ära der Reformen verändern sich die Kriterien von Erfolg und Misserfolg, von Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken. Ein grundlegend verändertes Gesellschaftsmodell etabliert sich.

Schlägt jetzt also die Stunde der Soziologie, die in Zeiten des wohlfahrtsstaatlichen Umbaus Orientierung bietet, Diskussionen anstößt und Interpretationen vorlegt? In Deutschland jedenfalls nicht. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, bleibt die Wissenschaft von der Gesellschaft bemerkenswert stumm.

Linksrheinisch finden sich hingegen eine ganze Reihe von Sozialwissenschaftlern, die mit Blick auf den Wandel der Gesellschaft sehr entschieden daran festhalten, dass die Soziologie gerade heute Gestaltungswillen und Erklärungskraft besitzen muss. Pierre Bourdieu und sein Forscherteam machten Mitte der Neunzigerjahre mit der eindrucksvollen Sozialstudie „La misère du monde“ („Das Elend der Welt“, dt. 1997) den Anfang. Robert Castel legte in „Die Metamorphosen der sozialen Frage“ kurz darauf eine umfassende Sozialgeschichte wohlfahrtsstaatlicher Entwicklung vor.

Nun ist ein drittes profundes Werk französischer Sozialwissenschaft endlich auf Deutsch erschienen: „Der neue Geist des Kapitalismus“, verfasst von Luc Boltanski und Ève Chiapello. Dank der Initiative des Genfer Soziologen Franz Schultheis sind alle genannten Titel in jeweils hervorragender deutscher Übersetzung im Universitätsverlag Konstanz erschienen. Während Bourdieus Team eine vorläufige empirische Bilanz der individuellen Kosten des sozialen Umbaus vorlegt, während Castel die Neujustierung der staatlichen Politik des Sozialen in das geschichtliche Große und Ganze einordnet, präsentieren Boltanski und Chiapello einen gesellschaftstheoretischen Entwurf in zeitdiagnostischer Absicht. Sie werfen einen Blick in die Zukunft des Kapitalismus und sezieren dessen „nouvelle esprit“, mithin die neuen normativen Ordnungsvorstellungen betrieblicher Arbeitsorganisation, familiären Zusammenlebens, individueller Lebensentwürfe und kollektiver Mentalitäten.

Als Triebfeder der Veränderungen des „kapitalistischen Geistes“ fungieren für sie nicht die Kräfte und Sachzwänge einer globalisierten Ökonomie, sondern die von spezifischen gesellschaftlichen Gruppen formulierte Kritik des Kapitalismus. Die Ausgangsthese von Boltanski und Chiapello ist: Der Kapitalismus als spezifisches Ordnungsmuster der Gesellschaft bedarf der Rechtfertigung. Und ist damit auch kritikanfällig. Das Autorenduo versucht keine neue kritische Theorie des Kapitalismus zu entwickeln, sondern formuliert eine Soziologie der Kritik am Kapitalismus. Boltanski und Chiapello unterscheiden hierbei die Sozialkritik, deren Träger die Parteien und Organisationen der aufstiegsorientierten Arbeiterbewegung sind, und die Künstlerkritik, deren Träger sich im stets um seine gesellschaftliche Position ringenden Milieu der Intellektuellen finden.

Während die Sozialkritik den Kapitalismus als Quelle von Armut und Ungleichheit, von Ungerechtigkeit, egoistischer Bereicherung und der Ausbeutung thematisiert, richtet sich die Künstlerkritik darauf, den Kapitalismus der Entzauberung und Standardisierung der Welt zu bezichtigen. Alles wird zur Ware, die Vielfalt und Kreativität menschlichen Daseins wird Gegenstand berechnender Kalkulation und kühler Bilanz.

Da die Sozialkritik seit längerem weitgehend verstummt ist und ihre sozialen Träger mehr und mehr in die politische Defensive gedrängt wurden, entwickelte sich, so Boltanski und Chiapello, seit dem Ende der Sechzigerjahre die Künstlerkritik zum treibenden Moment der Veränderung. Sie war es, die die bürgerliche Gesellschaft als bürokratisch und autoritätsfixiert kritisierte.

Zwar wächst die soziale Kluft zwischen Arm und Reich, doch die Hierarchien in den Betrieben werden flacher. Zwar gewinnen die Restriktionen der sozialstaatlichen Kontrollmaschinerie an Schärfe, doch die Welt der Arbeits- und Sozialämter präsentiert sich dafür als buntes Service-Center. Zugleich lösen sich traditionelle Sozialformen auf: Die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben schwindet, das Familienleben wird verbetrieblicht und gleichsam wie ein modernes Unternehmen „verschlankt“ – weniger Kinder werden geboren und immer mehr Dienstleistungen werden „von außen“ eingekauft.

Auch der Jargon einer Werbebroschüre für Gesamtschulen unterscheidet sich nur noch in Nuancen von der Powerpoint-Präsentation einer neuen Montagelinie in der Automobilindustrie. Gruppenarbeit, Eigenverantwortung, emotionale Intelligenz und vernetztes Denken sind mittlerweile gleichermaßen Gegenstände vorschulischer Erziehung und der Arbeiterbildung. Angeregt durch die Künstlerkritik richtet sich der neue Geist des Kapitalismus als normatives Konzept ebenso gegen Bürokratie und Beamtenstatus wie gegen den Wertkonservatismus der Kirche oder gegen den Verpflichtungscharakter traditioneller Familienformen. Kurzum: Er lehnt alle Institutionen und Sozialformen ab, die Grenzen ziehen und beibehalten wollen.

Boltanski und Chiapello analysieren die Durchsetzung einer „konnexionistischen Welt“, einer Welt also, die als Netz und als Projekt funktioniert und erfahren wird. Nur diejenigen können sich in den Netzwelten erfolgreich bewähren, die fähig sind, Projekte zu wechseln, neue Netze zu knüpfen und Grenzen zu überschreiten. Dauerhafte Bindungen sorgen hingegen für Unbeweglichkeit und werden zum Handicap. Wer sich nicht „vernetzen“ kann, der bleibt ausgeschlossen. Das gilt auf allen Ebenen der Gesellschaft. Daher ist es in einer konnexionistischen Welt nicht mehr sinnvoll, von hierarchisch gestaffelten sozialen Klassen zu sprechen – es gibt nur mehr die Ausgeschlossenen und die, die drin sind.

Die Logiken der sozialen Ungleichheit verändern sich. Boltanski und Chiapello liefern uns eine gesellschaftstheoretische Analyse auf der Höhe der Zeit. Die Kleinteiligkeit der Reformvorschläge, die den politisch interessierten Zeitgenossen heute so ratlos zurücklässt, fügt sich hier zum Ganzen. Denn dem neuen Geist des Kapitalismus entspricht auch eine neue Idee des Staatlichen. Der sorgende Staat, der von oben nach unten das Wohlergehen seiner Bürger reguliert und steuert, ist ohne Zukunft. An seine Stelle tritt ein staatliches Modell, das Dienste und Institutionen dem Bürger zur Verfügung stellt.

Diese Angebote miteinander zu verknüpfen, ist in der „Netzwelt“ die Aufgabe des Bürgers. Solche Befunde dienen Boltanski und Chiapello jedoch nicht zur nostalgischen Rückschau, sondern um neue, vernetzte Kritikformen des kapitalistischen Geistes zu zeigen. Im Zuge globalisierungskritischer Interventionen gewinnt derzeit allerdings auch die Sozialkritik der globalen Ausbeutung und Armut wieder an Boden. Der neue Geist des Kapitalismus scheint nicht das letzte Wort in der Geschichte zu sein.

Luc Boltanski, Ève Chiapello: „Der neue Geist des Kapitalismus“, aus dem Französischen von Michael Tillmann, Edition discours im UVK Verlag, Konstanz 2003, 736 Seiten, 49 Euro