piwik no script img

Archiv-Artikel

Ländle streicht Sonderschulpflicht

BEHINDERTENRECHTE Baden-Württemberg denkt um und will mehr behinderte Kinder an normalen Schulen

BERLIN taz | Baden-Württemberg hat überraschend angekündigt, die Sonderschulpflicht für Kinder mit Behinderungen abzuschaffen. Ziel sei, dass mehr behinderte Schüler an allgemeinbildenden Schulen unterrichtet werden, sagte Kultusminister Helmut Rau (CDU) am Montag. Bisher entschied im Südwesten die Schulaufsichtsbehörde, ob ein Kind auf eine Sonderschule gehen muss. In Zukunft soll es „Bildungskonferenzen“ geben, in denen Lehrer, Eltern, Sonderpädagogen und die Schulverwaltung gemeinsam die geeignete Schule für das jeweilige Kind finden sollen.

Damit reagiert Baden-Württemberg offenbar auf die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit wenigen Wochen auch hierzulande gilt. Sie verpflichtet Deutschland zu einer inklusiven Bildung: Behinderte und nichtbehinderte Kinder sollen möglichst zusammen lernen. Bisher ist Deutschland dem kaum nachgekommen. Nur rund 15 Prozent der behinderten und lernbehinderte Schüler besuchen eine normale Schule, im europäischen Ausland sind es mehr als drei Viertel.

Selbst die Opposition in Baden-Württemberg und die Bildungsgewerkschaft GEW begrüßten die Ankündigung des Kultusministers. Die SPD-Fraktion hält die „Bildungskonferenzen“ aber für unnötig. Die Grünen forderten ein „echtes Elternwahlrecht ohne Einschränkungen“. Das Land hatte bisher die Umsetzung der UN-Konvention eher blockiert. Noch im März sah das Kultusministerium das Abkommen bereits umgesetzt: „Baden-Württemberg erfüllt mit den Angeboten und Möglichkeiten seines Schulsystems die Forderung der UN nach einer gleichwertigen Bildungsteilhabe für Menschen mit Behinderungen.“

Integration findet in Baden-Württemberg bisher weitgehend über sogenannte Außenklassen statt. Hier bleiben die Schüler offiziell Teil der Sonderschulen, besuchen aber die Regelschulen. Was sich an diesem Modell nun ändert, ist unklar. Rau will einen Expertenrat einrichten, der Empfehlungen aussprechen soll.

Nach Ansicht von Fachleuten ist nicht nur Baden-Württemberg, sondern ganz Deutschland noch weit entfernt von den Vorgaben der UN-Konvention. Der Sozialverband Deutschland forderte am Montag von den Ländern daher ein „Aktionsprogramm für inklusive Bildung“.

WOLF SCHMIDT