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Archiv-Artikel

Suche nach Thales‘ Fußstapfen

Archäologen der Ruhr-Universität Bochum leiten die Ausgrabungen der antiken Stadt Milet; der Alltag der Archäologie: Milet ist nicht Troja, es gibt keinen Massenandrang und das römische Theater bleibt Forschern und Mücken vorbehalten

VON HOLGER ELFES

Während der so genannten „archaischen“ Zeit Griechenlands vom 9. bis zum 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung segelten Griechen vom Mutterland in alle Winde und gründeten auch an den kleinasiatischen Küsten ihre Kolonien. Sie waren auf Handel und Reichtum aus, vom Bevölkerungsdruck in der alten Heimat getrieben. Äolier, Ionier, Dorer und Achäer brachten eine neue Art der Zivilisation an die östlichen Gestade des ägäischen Meeres. Die Ionier gründeten einen Städtebund, dem auch Milet, Smyrna und Ephesos angehörten.

Gegenüber den spektakulär rekonstruierten Ruinen von Ephesos hat Milet aber „nur“ ein beeindruckendes Theater und viel Gelände zu bieten, aus dem die Überbleibsel früherer Zeiten nur hie und da hervorlugen. Maximal 2.000 Interessierte zieht es selbst im Topmonat September pro Tag hier hin. Für die Archäologen bedeutet der Mangel an Touristen jedoch eine große Chance. „Wir stehen weniger unter Druck als unsere Kollegen in Ephesos oder Troja“, sagt Volkmar von Graeve. Der Bochumer Archäologie-Professor ist seit 1988 im Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts Chefausgräber von Milet und damit eine der europäischen Autoritäten seiner Wissenschaft.

Einen „Archäologie-Papst“ vermutet man nicht unbedingt im Ruhrgebiet. „Die Milet-Grabungen wären nirgendwo anders so gut angesiedelt wie an der Ruhr-Uni“, findet von Graeve: „Die Menschen hier sind frei von Standesdünkel und der Technik gegenüber aufgeschlossen – in München hätten die Archäologen vor zehn Jahren nicht so einfach mit Ingenieuren, Geologen oder Physikern zusammengearbeitet.“ Interdisziplinarität ist auch das Schlüsselwort der modernen Archäologie wie sie an der Ruhr-Uni betrieben wird. „Damit waren wir damals durchaus Trendsetter und haben bis heute eine Art Vorbildcharakter“, sagt von Graeve .

Wo Wissenschaftler unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenarbeiten, erhöhen sich Effizienz und Erkenntnisgewinn. So werden etwa ganze Stadtteile des antiken Milets mit Hilfe der seismischen Prospektion, einer Spezialität der Kieler Geophysiker, gewissermaßen geröntgt. Noch bevor ein einziger Spatenstich getan werden muss, wissen die Archäologen so bereits im Voraus, ob und an welcher Stelle sich eine Grabung lohnt. Auch Zoologen, Wasserbauingenieure oder Botaniker sind mit von der Partie bei den Milet-Grabungen. Finanziert wird ihre Arbeit im wesentlichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Rund 150.000 Euro stehen für die Ausgrabungen pro Jahr zur Verfügung. Mit diesen Geldern ist seit 1988 viel geschehen in Milet.

Berthold F. Weber, ebenfalls Mitarbeiter am Bochumer Archäologischen Institut, ist für die Restaurierung des antiken Theaters verantwortlich. Nachdem seit 1913 fast nichts mehr an der Ausgrabungsstätte getan wurde, war auch das aus römischer Zeit stammende Theater in einem desolaten Zustand. Unter Webers Leitung wurde das Bauwerk dann quasi nur mit Mörtel und anderen auch in der Antike gebräuchlichen Materialien und Techniken stabilisiert. Der Einsatz von High-Tech-Materialien wie synthetische Spezialkleber wird von den Bochumer Archäologen abgelehnt. Die Vorsicht ist berechtigt: Schäden wie an der Athener Akropolis durch den Einsatz von Metallklammern vor über 100 Jahren sind nicht die einzigen Fälle von modernem „Pfusch am antiken Bau“. Anders als im benachbarten Ephesos gibt es im Theater von Milet keine nächtlichen Aufführungen zur Belustigung der Türkeitouristen. „Einmal hat ein Bürgermeister das versucht, aber es war ein Flop, weil kaum Leute kamen und die wurden dann auch noch ganz schnell von den zahlreichen Mücken vertrieben“, klammheimlich freut sich von Graeve über den Flop.

Dennoch sind Besucher den Archäologen hoch willkommen; Gästen wird einiges geboten: Walter Eder, Bochumer Althistoriker, hat die die touristische Erschließung vorangetrieben. Noch vor zehn Jahren war die Ausgrabungsstätte verwildert, ausgehobene Gruben und Abraumhügelchen prägten das Bild. Heute führen Wege, die dem alten Straßenraster folgen, vom Theater zu den ehemaligen Märkten, Tempeln und Wohn- und Handwerkervierteln. Schrifttafeln erläutern dem Besucher, wo er sich gerade befindet und welche Funktion die vor ihm liegende Ruine seinerzeit hatte. Auch Rekonstruktionszeichnungen helfen beim Verständnis.

Die Forschung in Milet konzentriert sich vor allem auf die frühe Blütezeit der Stadt. „Milet wurde schon im Altertum von Herodot der Schmuck Ioniens genannt“, sagt von Graeve. Von hier aus gründeten die ionischen Griechen Handelskolonien bis zur Krim und bis nach Ägypten. Die wohlhabende Megacity brachte universalgelehrte Geistesgrößen hervor wie Thales, Anaximander und Anaximenes, die Begründer der Philosophie als Wissenschaft. Der Reichtum Milets bedeutete auch sein Verderben. Begierige Nachbarn führten Kriege mit den Ioniern und vor allem das aufsteigende Perserreich lockte die reiche Beute. Die Perser siegten und zerstörten 494 Milet – einen guten Teil der Einwohner deportierten sie. Von dieser Niederlage hat sich die Stadt nie wieder erholt, die Versandung der Häfen gab ihr den Rest.

Milet stellt für die Zunft der Althistoriker eine äußerst bedeutende Quelle für die archaische Epoche Griechenlands dar. Goldschätze, perfekt erhaltene Tempel oder Kunstgegenstände sind indes nicht zu erwarten. Dafür liegt Milets Blütezeit zu lange zurück, wurde die Stadt zu häufig überbaut und geplündert. Sensationen wird diese Grabung nicht liefern: „Die Fußabdrücke von Thales haben wir bisher nicht entdeckt“, scherzt von Graeve. Dafür aber viele Erkenntnisse über das tägliche Leben in der Frühzeit des Griechentums.