: Die Hauptschul-Versteher
Die Befürworter der Hauptschule haben nur eines im Sinn: Ihr geliebtes Gymnasium soll unangetastet bleiben. Der Hinterhof des deutschen Schulwesens ist ihnen herzlich egal
Das sind sie wieder, die Hauptschulversteher. Es ist eine besondere Spezies. Wenn nicht gerade Pisa-Time ist im Land, dann umfahren auch sie die Dschungelcamps des deutschen Schulwesens weiträumig, weil sie genau wissen, dass dort rund 1,5 Millionen Schülerinnen und Schüler auf die Sozialhilfe vorbereitet werden. Auch die Hauptschulversteher kennen die soziale Mischung im Souterrain des deutschen Kastenwesens. Ein ansteckendes Milieu, unter Umständen droht Schusswaffengebrauch.
Hauptschullehrern, die ihren Job zu ernst nehmen, wird der pädagogische Ehrgeiz mit geballten Fäusten ausgetrieben. So ist die Hauptschule. Jeder weiß aus eigener Erfahrung solche Geschichten zu erzählen, weswegen auch niemand dorthin will. Aber wenn Pisa, wie in diesen Tagen wieder, zeigt, dass nicht die deutsche Schule an sich versagt, sondern zuerst und vor allem die Hauptschule, dann rücken ihre Verteidiger auf den Plan. Selbst das FAZ-Feuilleton war sich nicht zu schade, dem Hinterhof der Nation einen Besuch abzustatten – und war selbst ein bisschen überrascht, dass die Kinder höflich seien und obendrein lesen und schreiben können.
Damit ist es auch gut. Denn der gymnasial gebildete und vielfach studierte Autor hat eine heimelige Botschaft für die Schmuddelkinder: „das beruhigende Gefühl, dass man nicht alles können muss und, wenn es im Deutschen hapert, man ja nicht unbedingt Schriftsteller oder Lehrer zu werden braucht“. Der Kollege von der SZ ließ den Besuch im Bildungsgetto lieber bleiben, sein Raisonnement über Pädagogik als solche kam jedoch ganz ohne Exkursion zum identischen Schluss: „Selektion in der Anschauung der Schüler ist der Ausgangspunkt, ob man will oder nicht. (…) Es können nicht zugleich alle mitkommen und die klugen Köpfe in voller Ausschöpfung ihrer Möglichkeiten brillieren.“ Will sagen: Es gibt Verlierer, sagen wir es ihnen rechtzeitig, sondern wir sie aus. Oder anders: Die Hauptschulversteher verteidigen nicht diese eklige Schulform, sie wollen ihr Gymnasium unbefleckt halten.
Es ist interessant, dass die führenden Feuilletons heute sozialdarwinistischer sind als die Wirtschaftsorganisation der entwickelten, vulgo kapitalistischen Länder. Die OECD nämlich weiß inzwischen, dass es eine Vielzahl von Ländern gibt, die beides können: eine Leistungselite formen – und zugleich allen Schülern möglichst lange die möglichst besten Chancen anbieten, und zwar allen gemeinsam.
Es geht, tatsächlich, in Finnland, Kanada, Korea und einem Dutzend weiterer Länder. Nur in einer Hand voll Ländern, am konsequentesten in Deutschland, ist die Idee tief verwurzelt, „dass eben nicht alle mitkommen können“. Exekutiert wird diese Begabungslehre, die aus dem 19. Jahrhundert stammt, in der Hauptschule.
Die drei Jahre zwischen Pisa 2000 und Pisa 2003 haben eindrucksvoll gezeigt, um wen es in der deutschen Schule geht und wer egal ist: Die Gymnasiasten wurden besser – die Hauptschüler blieben so schlecht, wie sie sind. Und selbst der stets vorsichtig formulierende Leiter der deutschen Pisa-Abteitung, der Kieler Forscher Manfred Prenzel, weiß, warum: In der Hauptschule wirkten didaktische Spielereien nicht, weil man dort zu viel beschäftigt sei mit sozialtherapeutischer Arbeit.
Es gibt nur einen paradoxen Ausnahmefall einer geglückten Hauptschule, genauer: es gab ihn. Es war die bayerische Hauptschule. Anders als die meisten Hauptschulen anderer Länder versammelte Bayern um die 40 Prozent seiner Schüler in der Hauptschule. Es vermied dadurch, ein 10- bis 15-prozentiges Destillat der Schlechtesten in eine Lerngruppe zu sperren – und so bildete sich in Bayern eben nur begrenzt ein, wie es die Forscher nennen, „differenzielles Lernmilieu“, das deren Besuchern eine fürchterliche doppelte Benachteiligung beschert: Sie bekommen schon zu Hause wenig Anstöße, mit ihresgleichen in einer Schule aber wollen sie alles – bloß nicht lernen. Das aber nun ist die Ironie der bayerischen Hauptschulpolitik. Ausgerechnet ihr wichtigster Anwalt richtete die letzte halbwegs funktionierende Hauptschule zugrunde, indem er eine Realschule ab der 5. Klasse einführte – und den Rest der Hauptschule in einen M-Zweig (mittlere Reife) und eine Resthauptschule zerschnitt.
Die Hauptschule ist kaputt, sie ist auch nicht zu retten, indem man nun ein paar mehr Sozialarbeiter und Lehrer in sie entsendet, wie gerade der Oberseparatist der deutschen Schule, der Chef des Lehrerverbandes, Josef Kraus, forderte. Die Hauptschule als Schulform muss weg, und ihre bisherigen Bewohner müssen wieder in den Genuss der Rechte kommen, die ihnen das Grundgesetz garantiert: Gleichheit vor dem Gesetz, freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Bildung. Diese unveräußerlichen Rechte sind es, die ihnen bislang vorenthalten wurden. CHRISTIAN FÜLLER