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: Pragmatischer Kleinkram, erstaunlich brutal

Nein, die Lage ist nicht katastrophal. Und doch braucht dieses Land Veränderung. 40 Jahre nach dem Wirtschaftswunder beginnen die alten Quellen des Reichtums zu versiegen. Modernisierung ist dringend notwendig – aber eine andere, als der Bundestag sie gestern beschlossen hat.

Bundesregierung und Opposition haben bewiesen, dass sie gemeinsam handlungsfähig sind, wenn auch unter Schmerzen. Neun Monate nach der Verkündung der Agenda 2010 durch den Bundeskanzler ist etwas herausgekommen, was angelsächsischen Beobachtern sogar Respekt abnötigt: „Guck an, die Deutschen sind in der Lage, sich zu bewegen.“

„Reform“ wäre dafür aber das falsche Wort. Manche Maßnahmen sind zwar richtig: Etwa die Abschaffung des altertümlichen Zwangs zum Meisterbrief in 53 Berufen, ohne den Handwerker bisher keinen eigenen Betrieb eröffnen konnten. Über weite Strecken allerdings besteht das Gesetzespaket entweder aus pragmatischem Kleinkram, den Technokraten zum großen Wurf stilisieren – oder es beinhaltet erstaunliche Brutalitäten. Dass der Staat Erwerbslosen das Recht auf ein auskömmliches Leben aberkennt, indem er die Unterstützung auf Sozialhilfeniveau senkt, ist der Republik unwürdig.

Rot-Grün und Schwarz-Gelb haben sich darin überboten, „Strukturreformen“ zu entwerfen. Leider ging es dabei gerade nicht um diejenigen Strukturen, die tatsächlich einer Erneuerung bedürfen. Durchschütteln der Bundesanstalt für Arbeit, bessere Vermittlung der Arbeit Suchenden – alles gut und schön. Aber was ist mit der Belastung der Arbeit durch 42 Prozent Sozialabgaben, die in den kommenden Jahren weiter wachsen? Anders als der neoliberale Mainstream behauptet, wirken die Kosten des deutschen Sozialsystems zwar nicht als Jobkiller, aber eine Empfehlung, neue Stellen zu schaffen, sind sie auch nicht. An dieser Stelle braucht unsere Geldverteilmaschine eine Reparatur: Um Arbeit billiger zu machen, muss das Sozialsystem zu größeren Teilen über Steuern finanziert werden. Keine neue Erkenntnis – doch in den Beschlüssen des Bundestags hat sie sich nicht durchgesetzt. Und wo bleibt das Geld für Schulen und Unis, damit mehr Leute eine bessere Qualifikation erwerben können? Wie kann man das marode Gesundheitssystem fit machen?

Fragen über Fragen. Aber die werden wir schon noch beantworten, bis im Jahre 2040 die Sozialabgaben bei 50 Prozent des Verdiensts angekommen sind.

HANNES KOCH