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Archiv-Artikel

Das Leiden steht im Vordergrund

Eine Ausstellung voller Wunder: Das Internationale Haus der Photographie in den Deichtorhallen zeigt Jesus-Christus-Darstellungen aus 150 Jahren

Wundern kann man sich schließlich auch über die Fülle von überraschenden Lesarten

von Karin Liebe

Weihnachten und Ostern sind bekanntlich die höchsten Feiertage im Christentum. Wenn eine Fotoausstellung zum Thema Christus-Darstellungen kurz vor Weihnachten beginnt und exakt am Ostermontag endet, kann das eigentlich kein Zufall sein. Doch, behauptet F. C. Gundlach, der die vom Israel Museum in Jerusalem organisierte Schau jetzt für sein neu gegründetes Internationales Haus der Photographie als weltweit einzige weitere Station übernommen hat. Die Terminplanung bleibt nicht das einzige Wunder dieser Ausstellung.

Wundern kann man sich auch darüber, dass die rund 150 Exponate aus 150 Jahren Fotogeschichte keineswegs immer nur Christus zeigen. Da bildet Les Krims eine nackte Frau keck mit Minnie-Maus-Maske vor einem Kreuz aus Luftballons ab, da hat Man Ray einen nackten Hintern mit dem Umriss eines Kreuzes übermalt. Man sieht und staunt: Den meisten Fotografen geht es nicht um eine realistische Abbildung der Person Jesus Christus – die ohnehin nicht möglich ist –, sondern um eine wohlwollende bis kritische Auseinandersetzung mit der Symbolik christlicher Motive. Und dabei, so wundert man sich weiter, steht das Leiden eindeutig im Vordergrund. Jesus am Kreuz oder mit Dornenkrone, als Opferlamm oder tot im Schoß der trauernden Maria – das sind die immer wiederkehrenden Sujets, entnommen aus der Lebens- und Passionsgeschichte Christi.

Was für ein Mensch dieser Jesus Christus jenseits von Leid und Tod war, davon erzählen nur wenige. Der amerikanische Fotograf Duane Michaels etwa, der in seiner Schwarz-Weiß-Serie „Christus in New York“ Jesus bei seiner Wiederkunft auf der Erde in sechs Stationen arrangiert hat. Der Heiland ist hier vor allem ein Mit-Leidender, der hilflos dabei zusieht, wie Gewalt, Armut und soziale Ungerechtigkeit die amerikanische Metropole Anfang der achtziger Jahre prägen.

Jesus als politischer Agitator oder Wundertäter – solche Facetten sind hier weit gehend ausgeklammert. Schwer zu beurteilen, ob der israelische Kurator Nissan N. Perez diese Annäherungen bewusst ausgeschlossen hat oder ob sich die Fotografie für den Tatmenschen Jesus wirklich so wenig interessiert. Dokumentarfotos vom erschossenen Studenten Benno Ohnesorg, vom toten Robert Kennedy oder Che Guevara beleuchten allenfalls die Märtyrer-Variante des politischen Engagements.

Umso verwunderlicher, dass selbst innerhalb dieses relativ engen Themenspektrums solch eine Vielfalt an Interpretationen möglich ist. Ein immer wiederkehrendes klassisch-religiöses Motiv ist das der Pietà. Von einigen zeitgenössischen Fotografen wie dem Israeli Adi Nes wird es ironisch verfremdet. Bei dessen Kriegsszenerie im nächtlichen Feld ist es nicht Maria, die den toten Jesus im Schoß trägt, sondern ein Soldat, der seinen verwundeten Kameraden im Arm hält – einen Pinsel in der Hand, den geöffneten Malkasten in Reichweite. Blut und Leid, alles nur Show?

Fragen lässt auch Boris Mikhailovs Foto eines jungen Mannes mit nacktem Oberkörper offen, der von zwei Frauen über eine verschneite Landschaft gezogen wird. Ein Wahnsinniger oder ein Alkoholiker, der seinen Rausch im Freien ausschlafen wollte und dabei erfroren ist?

Die Geschichte hinter Dean Tokunos bewegendem Foto „Dad“ wird dagegen vom Künstler selbst offen gelegt. Ein alter Mann, bekleidet nur mit einer Windel, die an das weiße Leintuch von Jesus am Kreuz erinnert, liegt auf dem Schoß eines jüngeren Mannes, golden angeleuchtet vom Abendlicht. Noch einmal an die Sonne, so steht unter dem Foto zu lesen, wollte der Sohn den toten Vater tragen. Das Motiv der Pietà steht hier für Hingabe, Mitgefühl und Trauer schlechthin.

Bei so viel Zelebrierung von Leid und Tod liegen Kitsch und Pathos nicht allzu fern. Über den künstlerischen Wert mancher frömmelnder, schwül erotischer oder stereotyper Bildsprache kann man sich streiten. So bildet Gabriel Harrison in einer Daguerreotypie von 1850 seinen Sohn mit schmachtendem Blick ab. Der Jüngling schultert ein Kreuz so hingebungsvoll, als würde er dem schlichten Holz gleich himmlische Geigentöne entlocken. Ohne Kitsch kommt hingegen Harrisons Zeitgenossin Julia Margaret Cameron aus.

Zwar blicken ihre 1865 fotografierten Frauengestalten in Weichzeichnermanier aufs schlafende Jesuskind, doch Jesus selbst wird als ganz normales Baby in unbekümmerter Schlafhaltung abgebildet. Geradezu modern mutet sogar Camerons Arbeit „Anbetung“ an. Die Collage aus zwei Fotos trennt ganz bewusst die anbetenden Frauen vom Jesuskind, das im extremen Querformat in einer völlig anderen Welt zu leben scheint.

Wundern kann man sich schließlich auch über die Fülle von überraschenden Lesarten, selbst wenn sich die Motive stets wiederholen. So wird das letzte Abendmahl von Annie Leibovitz als lebhaftes Familienereignis interpretiert. Und der aserbaidschanische Fotograf Rauf Mamedov lässt Jesus und seine Jünger von Modellen darstellen, die eins gemeinsam haben: Sie leiden am Down-Syndrom.

Corpus Christi: Internationales Haus der Photographie, Deichtorhallen, bis 12. April 2004, begleitende Filmreihe im Metropolis: 7.1. bis 6.4.2004