Komapatient gesundgebetet

AUS BERLIN HANNA GERSMANN

„Nein, ich bereue nichts“, sagt Bernhard Ulrich heute. Ulrich ist der Mann, der die deutschen Bäume totgesagt hat. Das war vor gut zwanzig Jahren. Der Spiegel hatte den Göttinger Forstprofessor befragt – und dann getitelt: „Der Wald stirbt“. Fortan lernte jeder Schüler, was im sauren Regen steckt. Bürgerinitiativen druckten krüppelige Fichten auf Flugblätter. Nur seltsam: Ahorn, Eiche und Buche blieben standhaft. Mitte der Neunzigerjahre war es so weit: Ulrich und seine mahnenden Kollegen wurden von vielen, oft selbst ernannten Forstexperten der Hysterie bezichtigt. So freute sich etwa Helmut Schmidt 1996: „Der Wald ist vital.“

Die Sache ist jedoch die: Der Altbundeskanzler irrte. Genau wie die derzeit für den Forst zuständige Bundesministerin Renate Künast noch vor einem Jahr. Damals hatte sie der Welt am Sonntag gesagt: „Dem Wald geht es gut.“ Weit gefehlt. „Der Zustand der Wälder ist alarmierend“, räumte sie gestern ein, als sie den Waldzustandsbericht 2004 präsentierte. Einst hieß der Waldschadensbericht. Geholfen hat die politische Gesundbeterei nicht.

Zwar ist ein Drittel der Republik mit Wald bedeckt, und jedes Jahr kommen Flächen dazu, weil Acker umgewandelt wird. Doch die Krankenakte erschreckt: Fast drei Viertel aller Bäume, 72 Prozent, sind lädiert. Der Wald liegt im Koma, ihm geht es schlechter denn je. Lebenserhaltende Maßnahmen wurden zu früh eingestellt.

Seitdem dieser Befund klar ist, telefonieren die Mitarbeiter von Umweltminister Jürgen Trittin und seiner Kollegin Künast hin und her. Die politischen Beamten waren überrascht. „Das war doch abzusehen“, sagt hingegen Ulrich. Fast täglich spaziert er, längst Pensionär, mit seiner Frau durch den Wald. Einen Triumph hört man in seiner Stimme nicht. Dafür sorgt er sich zu sehr um das Ökosystem, vor allem um die Böden. Sie sind sauer geworden. Damit werde die Republik – egal wie viele Rettungsversuche es gebe – noch mehr als hundert Jahre kämpfen, weiß Ulrich.

Er hat Recht: Der Patient Wald ist labil – und wetterfühlig. Der Sommer 2003 war ihm zu heiß und zu trocken, erklärte Künast gestern. Zudem schwirrte zu viel Ozon in der Luft. Allerdings bekommen Bäume nicht einfach einen Sonnenbrand. Die meisten Schäden treten erst in der nächsten Vegetationsperiode auf. Und so blieben die Blätter 2004 mickrig.

Besonders erwischt hat es die Buche. 86 Prozent sind sichtbar geschädigt – und damit 10 Prozent mehr als noch vor einem Jahr. Noch rätseln die Experten, ob das mit dem Witwe-Bolte-Effekt zusammenhängt: „Jedes legt noch schnell ein Ei – und dann kommt der Tod herbei.“ Jedenfalls hat Fagus sylvatica, so der lateinische Name, 2004 ihre ganze Kraft in ihre Nachkommen, in Blüten und Früchte, gesteckt. Mastjahr heißt dieser Teil der Baum-Lebensplanung und ist alle sechs Jahre durchaus normal. Es kommt nun darauf an, ob das nächste Mastjahr schon früher folgt. In solchen Zeiten haben Bäume keine Energie, um lästige Insekten abzuwehren oder Durststrecken zu überstehen.

Fest steht: Während Ulrich sich in den 80er-Jahren vor allem um Fichten und Kiefern sorgte, kränkeln heute die Laubbäume. Das hängt damit zusammen, dass die Pflanzen auf unterschiedliche Gifte verschieden reagieren. Die einstigen Killer, schwefelhaltige Abgase aus Großkraftwerken und der Industrie, sind mittlerweile fast weg. Dagegen wurden mit Milliardenaufwand Rauchgasfilter eingebaut. Zudem entgiftete der Katalysator die Autoabgase. Ohne die apokalyptischen Szenarien Ulrichs und seiner Kollegen hätte sich die Technik nie so schnell durchgesetzt. Das vergessen all diejenigen gerne, die die hitzige Debatte der 80er-Jahre belächeln. Auch in Ostdeutschland haben sich die Nadelwälder erholt. Allerdings ist die bessere Luft dort dem Zusammenbruch der Industrie in den 90er-Jahren geschuldet.

Die Forstexperten machen nun andere Bösewichte aus: Stickstoff aus Kuh- und Schweineställen. Die wirken zwar auch als Dünger, doch üppig ist eben nicht gleich gesund. Und dichtes Gras unter Kiefern sieht zwar nach naturnahem Wald aus, ist es aber nicht. Dafür braucht der grüne Teppich zu viel Wasser und hindert den Baumnachwuchs daran, aufzukeimen. Der größte Batzen kommt heute aus der Landwirtschaft. Zu Buche schlagen aber auch besonders die Abgase von Lkws.

Bekannt ist das Problem schon lange, zumindest dem Waldexperten des Umweltbundesamtes (UBA), Heinz-Detlef Gregor. „Der Stickstoff wird zum Schadstoff des Jahres“, teilte der nach einer deutschen Waldforscher-Konferenz Anfang der 90er-Jahre besorgt seinem Chef Heinrich von Lersner mit. „Wenn Sie sich da mal nicht irren“, antwortete dieser lapidar. Er ahnte wohl, dass Auto- und Bauernlobby mehr Gehör finden würden.

Dabei werden Stickoxide mit Regen zu Salpetersäure – und versauern so obendrein den Boden. Die Feinwurzeln der Bäume vertragen das nicht, sterben ab. Bei Sturm kippen die Stämme einfach um. Und: Giftige Stoffe wie Aluminium und Mangan werden nicht mehr gefiltert, stattdessen gelangen sie ins Trinkwasser.

Heute warnt davor regelmäßig nur noch die Düngemittelindustrie. Ausgerechnet. Der Grund: Den angesäuerten Wäldern wird seit langem hoch subventionierter Kalk verschrieben. Die privaten Waldbesitzer zahlen selbst höchstens 10 Prozent. Für das „Rumdoktern an Symptomen“, wie Wissenschaftler kritisieren, geben Bund, Land und EU ein kräftige Finanzspritze: Von 1983 bis 2003 196 Millionen Euro. Das Profikalk-Geschäft lohnt also. Deshalb gründete sich 1992 beispielsweise die Deutsche Heliforst. Deren Piloten starten in diesen Tagen wieder. Bis zum Frühjahr steigen sie immer wieder auf, um den Kalk aus der Luft zu verstreuen. In Zeiten leerer Kassen fürchten aber auch sie um jeden Flug.

Wie schnell die Mittel gekürzt werden, haben Waldforscher wie Bernhard Ulrich längst erfahren. Anfang der 80er-Jahre gründete er in Göttingen das Forschungszentrum Waldökosysteme, das Bundesforschungsministerium gab Geld. Ulrich beobachtete den Harz, wo die Fichten die Nadeln verloren wie nie zuvor – die Abgasfracht von Braunkohlekraftwerken und Kokereien verätzte ihr Blattwerk. Im Solling im Weserbergland überspannten Wissenschaftler ein 900 Quadratmeter großes Waldstück mit einer Plane. Sie filterten den Regen, bevor sie ihn auf der Erde versprühten – die Bodenchemie verbesserte sich enorm. Insgesamt hat der Bund von 1982 bis Anfang der 90er-Jahre eine Viertelmilliarde Euro in 859 Waldprojekte gesteckt.

Doch dann kam der Knick: Schrieb ein Forscher „Wald“ auf seinen Förderantrag, wurde der zumeist abgeschmettert. Auch Ulrichs Nachfolgern Michael Bredemeier wurden die Mittel gekürzt. Selbst im UBA hieß es, die Waldforschung habe „keine Priorität“ mehr. Die Panik der frühen Achtziger war verflogen, den Waldexperten fehlten Argumente. Das hat sich auch nicht sehr gebessert, als 1998 Rot-Grün kam.

Schlügen sich Waldschäden in Holzpreisen nieder, wäre das anders gewesen. Doch ein hessischer Waldbauer erzielte für einen Kubikmeter Fichte der „Klasse B mit Rinde“ 2002 zum Beispiel gut 56 Euro – in etwa genauso viel wie 1986. Früher war es Förstern allerdings noch peinlich, wenn ihre Tannen kränkelten. Das kratzte an der Ehre. Heute nicht mehr.

Künast rief gestern dazu auf, mehr Holz zu verbrauchen. Ihr Gedanke: Das Ökosystem werde so von den Bürgern wieder mehr geschätzt. Tatsächlich werden derzeit nur drei Viertel von dem genutzt, was nachwächst: jede Sekunde drei Kubikmeter Wald. Erstaunlich lebendig!

„Das Waldsterben wird missverstanden“, erwidert Rudolf Fenner von Robin Wood. „Es ist ein Siechtum gen Tod.“ Das sei beim sonntäglichen Spaziergang nicht so einfach zu erkennen. Schließlich sehe auch ein Mensch mit hohem Blutdruck nicht unbedingt krank aus. Die mittlerweile 21. Baumdiagnose spreche aber für sich. Anfang der 80er-Jahre waren nur 60 Prozent der Wälder geschädigt – weniger als heute. Eine Frage der Statistik? Die Daten werden jedes Jahr gleich erhoben. Die Förster haben ein Raster über die Landkarte von Deutschland gelegt, in der Regel 4 mal 4 Kilometer. Die Experten schwärmen aus, taxieren an den Knotenpunkten die Bäume. Sie schauen, wie licht die Kronen geworden sind. Berichte, die kranken Bäume seien vor der Blattbeschau flugs geschlagen worden, wurden nie bewiesen.

Professor Andreas Roloff von der TU Dresden fordert dennoch eine Reform. Der Forstbotaniker hält die Waldstatistik, die den Steuerzahler Jahr für Jahr eine halbe Milliarde Euro kostet, für „nicht aussagekräftig“. Durch Eiche und Birke, alt und jung, schimmere naturgemäß nicht gleich viel Himmel durch. Ein Unterschied werde aber nicht gemacht. Ohnehin sei der Belaubungsgrad vielmehr ein Indikator für das Wetter als für die Vitalität. Doch auch der Skeptiker bestätigt: Den Bäumen geht es derzeit nicht gut.

Er ist sich einig mit Bernhard Ulrich oder Renate Künast, die fordern: Nicht nur die Schadstoffe müssen vermindert, sondern der deutsche Wald auch umgebaut werden. Buchen sollen in Kiefernwäldern gepflanzt werden. In einem Mischwald frisst sich der wählerische Borkenkäfer nicht so einfach von vorne bis hinten durch.

Die Walddebatte ist neu aufgelegt. Anders als damals sein Doktorvater Ulrich will der Göttinger Professor Michael Bredemeier heute aber „keinen Walduntergang prophezeien“. Dabei sucht Umweltschützer Fenner dringend nach einem Wissenschaftler, der jetzt wie einst Ulrich mutig einen Aha-Effekt auslöst. Bis dahin kann er nur hoffen, dass es im nächsten Sommer viel regnet.