EIN MARXISTISCHER HISTORIKER ZIEHT BILANZ
: Wider den postmodernen Relativismus

ALLE Historiker gehen davon aus, dass die Geschichtsschreibung in der objektiven Realität verankert sein und auch bleiben muss – also in den realen Ereignissen, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Doch ihr Ausgangspunkt sind nicht einfach nur Fakten, sondern Probleme und Fragestellungen. Gegen den „antiuniversalistischen“ Trend der letzten Jahrzehnte, die Geschichte auf Fragestellungen von „identity groups“ zu zerlegen, plädiert Eric Hobsbawm für eine neue Historikerkoalition, die sich daranmacht, die Transformationsprozesse der menschlichen Gesellschaften rational zu erforschen.
Von ERIC HOBSBAWM *

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern.“[1]Die marxistische Geschichtsschreibung weist zwei parallele Entwicklungsstränge auf, die gleichsam den beiden Aussagehälften der 11. Feuerbach-These entsprechen. Die meisten Intellektuellen, die seit den 1880er-Jahren zu Marxisten wurden, darunter auch Historiker, orientierten sich an der zweiten Hälfte: Sie wollten die Welt „verändern“, und zwar im Bündnis mit der jungen sozialistischen Bewegung. Anfangs verwies diese Verbindung mit der Arbeiterbewegung die „weltverändernden“ Historiker wie selbstverständlich auf bestimmte Forschungsgebiete, zumal auf die Geschichte des „kleinen Mannes“ – auch wenn für dieses Forschungsgebiet der marxistische Ansatz keineswegs zwingend war.

Wenn diese Intellektuellen aufhörten, Sozialrevolutionäre zu sein, waren sie in der Regel – zumindest nach 1890 – auch nicht länger Marxisten. Zwar wurde diese intellektuelle Abkehr durch die Oktoberrevolution 1917 noch verstärkt, doch darf man nicht vergessen, dass die großen sozialdemokratischen Parteien auf dem europäischen Kontinent sich erst in den 1950er-Jahren offiziell vom Marxismus verabschiedeten. Die russische Revolution produzierte in der Folge jedoch auch das, was wir aus der UdSSR und den später kommunistisch gewordenen Staaten als „offizielle“ Geschichtsschreibung kennen. Der Siegeszug des Antifaschismus verstärkte diese Tendenz, ehe die Motivation in den 1950er-Jahren wieder schwächer wurde – zumindest in den entwickelten Ländern, nicht jedoch in der Dritten Welt. Hinzu kam, dass in den 1960er-Jahren zwar eine neue Schicht akademischer „Weltveränderer“ entstand, die auch zu bedeutenden Teilen radikal, aber keine eindeutigen Marxisten waren.

Diese Bewegung erreichte in den 1970er-Jahren ihren Höhepunkt, ehe kurz darauf – und erneut aus politischen Gründen – eine massive Reaktion gegen den Marxismus einsetzte, die bis heute andauert. Diese Gegenoffensive hat vor allem die Annahme zerstört, der Erfolg einer bestimmten Art, die menschliche Gesellschaft zu organisieren, ließe sich mittels historischer Analysen voraussagen und befördern. Die Geschichte hat ihr Ziel verloren, ihr wurde die teleologische Dimension gekappt. Angesichts der ungewissen Zukunftsaussichten sozialdemokratischer und sozialrevolutionärer Bewegungen halte ich es für unwahrscheinlich, dass wir erneut eine politisch motivierte Hinwendung zum Marxismus erleben werden.

Wie steht es nun aber mit der ersten Hälfte der 11. Feuerbach-These? Was die „Interpretation“ der Welt betrifft, so haben wir es mit einer Entwicklung zu tun, die man als Anti-Ranke-Reaktion[2]innerhalb der Geschichtsschreibung bezeichnen könnte, wobei der Marxismus eine wichtige Rolle gespielt hat, die allerdings nicht immer voll gewürdigt wurde.

Im Kern handelte es sich dabei um eine doppelte Bewegung: Auf der einen Seite wurde der positivistische Glaube problematisiert, wonach die objektive Struktur der Realität sich gleichsam aus sich selbst heraus erkläre. So als reiche es völlig aus, die wissenschaftliche Methodologie auf die Realität anzuwenden, um zu erklären, warum alles so geschah, wie es geschehen ist. Nun gehen zwar alle Historiker davon aus, dass die Geschichtsschreibung in der objektiven Realität verankert sein und auch bleiben muss, also in den realen Ereignissen, die sich in der Vergangenheit abgespielt haben. Doch ihr Ausgangspunkt sind nicht einfach Fakten, sondern Probleme und Fragestellungen. Die Historiografie schließt also die Frage ein, wie und warum sich bestimmte Probleme und Paradigmen im Rahmen bestimmter soziokultureller Verhältnisse und historischer Traditionen herausbilden.

Auf der anderen Seite zielte diese Gegenbewegung darauf, die Geschichtswissenschaft in engere Berührung mit den Sozialwissenschaften zu bringen. Das machte sie zur Teildisziplin einer verallgemeinernden Wissenschaft, die sich zutraut, die Wandlungsprozesse der menschlichen Gesellschaft aus den historischen Abläufen zu erklären. Geschichte sollte sich also mit den „großen Warum-Fragen“ beschäftigen, wie Lawrence Stone[3]sie genannt hat. Der Anstoß für diese „Wende zum Sozialen“ kam allerdings nicht aus der Historikerzunft selbst, sondern aus den Sozialwissenschaften. Einige ihrer Disziplinen konnten sich wiederum überhaupt erst etablieren, indem sie sich von Anfang an als historische, d. h. die gesellschaftlichen Entwicklungen erklärende Sozialwissenschaft deklarierten.

Insoweit Marx als Vater der Wissenssoziologie gelten kann, hatte der Marxismus sicherlich seinen Anteil an der ersten dieser beiden Bewegungen, obwohl man ihm oft – und sehr zu Unrecht – einen blinden Objektivismus vorgeworfen hat. Auf der anderen Seite war die bekannteste Konsequenz der marxistischen Ideen, die Betonung der ökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren, keineswegs spezifisch marxistisch, obwohl die Marx’sche Analyse diese Tendenz entscheidend gefördert hat. Diese war zugleich Teil einer allgemeinen historiografischen Richtung, die sich seit den 1890er-Jahren herausgebildet und ihren Höhepunkt zwischen 1950 und 1970 erreicht hat.

Diese Entwicklung kam vor allem meiner Historikergeneration zugute, die zwischen den Weltkriegen studiert hat. Wir hatten das Glück, entscheidend zur Transformation unserer Disziplin beitragen zu können. Diese sozioökonomische Forschungsrichtung war breiter angelegt als der Marxismus. Zwar ging die Initiative zur Gründung der Zeitschriften und der Forschungsinstitutionen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte gelegentlich bereits von marxistischen Sozialdemokraten aus, so 1893 mit der Gründung der Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Berlin. Doch in Großbritannien, Frankreich und den USA war das nicht der Fall, und in Deutschland war die streng historische Schule der Volkswirtschaftslehre alles andere als marxistisch. Nur in der Dritten Welt des 19. Jahrhunderts, nämlich in Russland und der Balkanregion, und in der Dritten Welt des 20. Jahrhunderts hatte die Wirtschaftsgeschichte – wie alle „sozialwissenschaftlichen“ Disziplinen – eine vorwiegend sozialrevolutionäre Orientierung. Deshalb zeigte sie eine starke Affinität zu Marx und seiner Theorie. In jedem Fall aber richtete sich das inhaltliche Interesse der meisten marxistischen Historiker nicht so sehr auf die ökonomische „Basis“ als vielmehr auf die Beziehungen zwischen Basis und „Überbau“.

Der Einfluss, den Marx auf die Geschichtsschreibung ausübte, vermittelte sich sowohl über Historiker wie über Sozialwissenschaftler. Sie griffen die Fragestellungen von Marx auf, ohne notwendigerweise zu denselben Antworten zu kommen. Umgekehrt hat die marxistische Geschichtsschreibung seit den Tagen von Kautsky und Plechanow[4]beträchtliche Fortschritte gemacht, was sie vor allem der Befruchtung insbesondere durch die Sozialanthropologie und durch Denker wie Max Weber[5]verdankte. Sie waren von Marx beeinflusst, zugleich aber erweiterten und ergänzten sie seine Theorien. Die Zahl ausdrücklich marxistischer Historiker hingegen war stets begrenzt.

Meme, DNA und der Zufall in der Geschichte

ICH betone den historiografischen Trend zur Sozialforschung nicht etwa, weil ich die Unterschiede innerhalb der allgemeinen Strömung oder zwischen ihren verschiedenen Ansätzen – wie etwa dem Marxismus – herunterspielen will. Die Modernisierer unter den Historikern stellten tatsächlich dieselben Fragen und waren in dieselben intellektuellen Kontroversen verwickelt.

Dabei war es egal, woher sie ihre Inspiration bezogen – aus der Anthropogeografie, der Soziologie Durkheims[6]oder der „Annales“-Schule in Frankreich. Andere – aus der deutschen „Historischen Sozialwissenschaft“ – beriefen sich auf die Weber’sche Soziologie oder auf den Marxismus, wie die Historiker in Großbritannien, die mit ihrer Zeitschrift Past & Present zu wichtigen Trägern der geschichtswissenschaftlichen Modernisierung wurden.

Diese Modernisierer ganz unterschiedlicher Provenienz verstanden sich als gemeinsame Verbündete gegen den historiografischen Konservatismus auch noch dann, wenn sie sich politisch oder ideologisch befehdeten, wie etwa Postan[7]und die britischen marxistischen Studenten. Klassischer Ausdruck dieser Koalition des Fortschritts war die seit 1952 erscheinende Zeitschrift Past & Present, deren Erfolg darauf beruhte, dass die jungen Marxisten, die sie gegründet hatten, sich ideologisch nicht abkapselten. Auch die jungen Modernisierer aus anderen ideologischen und politischen Lagern waren bereit, sich mit ihnen zusammenzutun.

Diese Front des Fortschritts kam in der Zeit zwischen 1945 und den 1970er-Jahren gewaltig voran. Lawrence Stone bezeichnete sie als eine Umwälzung in der „Art des historischen Diskurses“. Doch seit Ende der 1970er-Jahre sieht sich die Koalition der Modernisierer in die Defensive gedrängt und mit ihr sogar nichtmarxistische Disziplinen wie die Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Bis zu den 1970er-Jahren hatte sich die etablierte Geschichtsschreibung – nicht zuletzt unter dem Einfluss des marxistischen Insistierens auf den „großen Warum-Fragen“ – in einem solchen Maße verändert, dass ich damals schreiben konnte: „Heute lässt sich oft unmöglich sagen, ob ein Buch von einem Marxisten oder einem Nichtmarxisten verfasst wurde, wenn der Autor seine ideologische Position nicht ausdrücklich bekannt gibt. Mir gefällt der Gedanke, dass es einmal eine Zeit geben könnte, in der niemand mehr fragt, ob ein Autor Marxist ist oder nicht.“ Aber ich habe damals auch hinzugefügt, dass wir von einer solch utopischen Welt noch weit entfernt sind.

Diese Aussage gilt erst recht für heute. Auf den potenziellen Beitrag des Marxismus zur Geschichtsschreibung zu verweisen ist inzwischen wieder notwendiger geworden. Erstens muss man die Geschichtswissenschaft gegen ihre Gegner verteidigen, die bestreiten, dass sie uns helfen kann, die Welt zu verstehen. Und zweitens haben neuere Entwicklungen im Bereich der Naturwissenschaften die historiografische Agenda verändert.

Auf methodologischer Ebene gab es eine gravierende negative Entwicklung: den Bau systematischer Barrieren zwischen den historischen Ereignissen und unserer Fähigkeit, sie zu beobachten und zu verstehen. Und zwar entweder indem man leugnet, dass es überhaupt eine objektive Realität gibt; sie sei schon immer vom jeweiligen Beobachter zu unterschiedlichen und wechselnden Zwecken konstruiert worden. Oder indem man argumentiert, dass wir niemals die Grenzen der Sprache überwinden können, also niemals über die Grenzen der begrifflichen Konzepte hinausgelangen, mit denen wir über die Welt einschließlich der Vergangenheit sprechen können.

Schon allein mit dieser Annahme wäre die Frage ausgeschlossen, ob es bestimmte Strukturen und Regelmäßigkeiten gibt, über die die Historiker sinnvolle Feststellungen treffen können. Aber diese Möglichkeit wird auch aus weniger theoretischen Gründen bestritten. In der Regel mit dem einfachen Argument, dass der Verlauf der Geschichte in der Vergangenheit zu stark von Zufällen bestimmt sei. Generalisierungen seien also unmöglich, weil im Grunde alles passieren kann oder hätte passieren können. Derartige Erwägungen rsind implizit gegen jede Art von Wissenschaft gerichtet.

Mit den einfältigeren Versuchen, methodologisch in vergangene Zeiten zurückzufallen, will ich mich hier gar nicht erst befassen. Dazu gehört die erneute Konzentration auf die höchsten politischen oder militärischen Entscheidungsträger, auf angeblich allmächtige Ideen oder „Werte“, aber auch die Beschränkung der historischen Forschung auf das wichtige, aber in sich unzureichende Streben nach „Empathie“ mit der Vergangenheit.

Politisch gesehen liegt die größte unmittelbare Gefahr für die Geschichtsschreibung in einem „antiuniversalistischen“ Ansatz nach dem Motto: „Meine Wahrheit ist so gültig wie deine, völlig unabhängig von Fakten und Belegen.“ Dies wirkt wie eine Einladung an die verschiedenen Arten von Geschichtsschreibung für identity groups. Für sie geht es nicht um die zentrale Frage, was geschehen ist, sondern um die Frage, wie dieses Geschehen die Mitglieder einer bestimmten Gruppe betrifft. Ganz allgemein gesprochen, geht es dieser Geschichtsschreibung nicht um rationales Erklären, sondern um „Bedeutung“, nicht um die Frage, was geschehen ist, sondern wie ein Geschehen von den Mitgliedern einer Gruppe empfunden wird, die sich aufgrund religiöser, ethnischer und nationaler Kriterien oder nach Geschlecht, Lebensstil usw. definitorisch abgrenzen.

Auch abseits solcher Relativismen der Identitätsgruppen-Geschichte waren die letzten 30 Jahre aus unterschiedlichen Gründen ein goldenes Zeitalter für die Erfindung emotional verzerrter historischer Unwahrheiten und Mythen, von denen etliche eine öffentliche Gefahr darstellen. Dabei denke ich an Länder wie Indien unter der hinduistisch dominierten Regierung[8], an die USA und an das Italien Berlusconis, ganz zu schweigen von vielen der neuen Nationalismen mit oder ohne religiös-fundamentalistische Unterfütterung.

Die Tendenzen zum Mythos brachten jedoch auch einige höchst interessante neue Entwicklungen auf dem Gebiet der Cultural Studies in Gang, etwa den neuen „Erinnerungsboom unter den zeitgeschichtlichen Studien“, wie Jay Winter es formuliert.[9]

Ich glaube, dass es heute an der Zeit ist, erneut eine Koalition unter denjenigen Historikern zu bilden, die finden, dass es der Geschichtswissenschaft darum gehen müsse, die Transformationsprozesse der menschlichen Gesellschaften rational zu erforschen. Eine Koalition also gegen jene, die für politische Zwecke Geschichte systematisch verzerren, aber auch ganz allgemein gegen die Vertreter des Relativismus und der Postmoderne, die glauben, dass eine rationale Erforschung der Geschichte nicht möglich ist.[10]

Da sich einige von ihnen als Linke verstehen, könnten sich damit innerhalb der historischen Zunft politisch ganz unerwartete Trennlinien ergeben. Ich glaube, dass der marxistische Ansatz ein notwendiges Element bei dieser Rekonstruktion einer gemeinsamen „Front der Vernunft“ ist, wie es auch in den 1950er- und 1960er-Jahren der Fall gewesen ist. Wahrscheinlich ist der Beitrag der Marxisten heute sogar noch bedeutsamer, weil andere Partner dieser Koalition – zum Beispiel die „Annales-Schule“ seit dem Tode von Fernand Braudel[11]– und die von der strukturell-funktionalen Sozialanthropologie inspirierten Historiker – praktisch abgedankt haben.

Während die Postmodernisten noch die Möglichkeit historischen Verstehens leugnen, haben die Naturwissenschaften, von den Historikern kaum beachtet, das Thema einer Entwicklungsgeschichte der Menschheit auf die Tagesordnung gesetzt. Und dies auf doppelte Weise. Erstens ermöglicht die neue Methode der DNA-Analyse eine zuverlässigere Chronologie der Entwicklung des Homo sapiens. Das gilt insbesondere für die Chronologie der Ausbreitung dieser Spezies von ihrer afrikanischen Ursprungsregion über die gesamte Welt bis zum Auftauchen der ersten schriftlichen Zeugnisse. Das Ergebnis ist zum einen die Bestätigung, dass die Geschichte der Menschheit – gemessen an der geologischen und paläontologischen Geschichte – erstaunlich kurz ist. Zum andern wurde damit die reduktionistische Lösung der neodarwinistischen Soziobiologie[12]eliminiert.

Die Veränderungen im kollektiven und individuellen Leben der Menschen in den letzten 10 000 Jahren oder gar innerhalb der letzten zehn Generationen sind viel zu umfassend, als dass sie vollständig durch den rein darwinistischen Wirkmechanismus der Evolution über die Gene erklärt werden könnten. Sie setzen vielmehr die beschleunigte Vererbung von erworbenen Merkmalen über kulturelle, nichtgenetische Mechanismen voraus. Hier vollzieht sich, wie ich vermute, die Rache von Lamarck[13]an Darwin im Medium der Menschheitsgeschichte. Und es hilft auch nicht viel, wenn man die kulturellen Wirkmechanismen in biologische Metaphern kleidet, indem man sie „Meme“[14]statt „Gene“ nennt. Denn die kulturelle und die biologische Vererbung vollziehen sich nicht auf dieselbe Weise.

Anders gesagt: Die DNA-Revolution verlangt nach einer spezifischen historischen Methode zum Studium der Evolution der menschlichen Gattung. Nebenbei bietet sie uns zugleich einen rationalen Rahmen für einen weltgeschichtlichen Ansatz, das heißt für die Aufgabe, die ganze komplexe Vielfalt der Welt zum Gegenstand unserer historischen Studien zu machen und nicht nur eine bestimmte Umgebung oder begrenzte Region. Geschichte wird damit zur Fortsetzung der biologischen Evolution des Homo sapiens mit anderen Mitteln.

Zweitens beseitigt die neue Evolutionsbiologie die krasse und vorschnelle Abgrenzung zwischen Geschichte und Naturwissenschaften. Sie ist bereits durch die systematische Historisierung aufgeweicht worden, die die beiden Disziplinen in den letzten Jahrzehnten erfahren haben. Luigi Luca Cavalli-Sforza, einer der multidisziplinär arbeitenden Pioniere der DNA-Revolution, spricht von „dem intellektuellen Vergnügen, eine Fülle von Ähnlichkeiten zwischen ganz disparaten Forschungsgebieten aufzuspüren, von denen einige traditionellerweise den kulturellen Gegenpolen ‚Naturwissenschaften‘ bzw. ‚Humanwissenschaften‘ zugeordnet wurden“. Kurzum: Die DNA-Revolution befreit uns von der Scheindebatte über die Frage, ob die Geschichtsschreibung eine Wissenschaft sei oder nicht.

Drittens sind wir damit unwiderruflich auf die grundlegende Fragestellung der Evolutionslehre zurückverwiesen. Sie wurde von Archäologen und Prähistorikern aufgegriffen, die verschiedene Arten von Interaktion zwischen unserer Gattung und ihrer Umwelt und deren zunehmende Unterwerfung durch die Menschen untersuchen. Kurzum, sie stellen essenziell marxistische Fragen. „Produktionsweisen“, oder wie immer man sie bezeichnen will, waren ganz entscheidend für die Entwicklung der menschlichen Gattung.

Diese Produktionsweisen beruhten auf wichtigen Innovationen im Bereich der Produktionstechnologie, der Kommunikation und der gesellschaftlichen Organisation, aber auch der militärischen Machtmittel. Und sie kamen, wie Marx sehr wohl wusste, nicht von allein zustande. Die materiellen und kulturellen Kräfte sind von den Produktionsbeziehungen nicht zu trennen. Sie waren und sind das Ergebnis von Handlungen, die Männer und Frauen unter Bedingungen vornehmen, die sie nicht selbst geschaffen haben. Denn sie agieren und treffen ihre Entscheidungen („machen ihre Geschichte“) nicht in einem Vakuum, nicht einmal im Vakuum vermeintlich rationalen Abwägens.

Insofern sollten die neuen Perspektiven der Geschichtswissenschaft uns auch auf das wesentliche, wenn auch nie ganz realisierbare Ziel zurückverweisen, das diejenigen verfolgen, die an einer „Universalgeschichte“ arbeiten. Was keineswegs eine „Geschichte von allem“ bedeutet, sondern Geschichte als ein unteilbares Gewebe, in dem alle menschlichen Aktivitäten miteinander verknüpft sind. Marxisten sind nicht die einzigen Historiker, die dieses Ziel verfolgt haben – man denke etwa auch an Fernand Braudel –, doch sie haben dieses Projekt am beharrlichsten betrieben.

Ich möchte deshalb am Ende Pierre Vilar zitieren, der wie Marx „jede strikte Unterscheidung oder wasserdichte Trennung zwischen den verschiedenen Bereichen der Geschichte“ abgelehnt hat: „Natürlich bleibt die Analyse ein wesentlicher Teil jedes Forschungsvorhabens, und die historische Zunft kann nicht ohne Spezialisierung auskommen. Doch die ökonomische Theorie allein kann niemals alle ökonomischen Erscheinungen erklären, so wie die politische Theorie nicht alle politischen Phänomene und die Theorie der Spiritualität nicht alle spirituellen Phänome erklären kann. Entscheidend ist in jedem konkreten Fall die Interaktion zwischen all diesen Disziplinen.“[15]

Dies bringt uns zu der historischen Entwicklung des Homo sapiens zurück. Vilars Überlegung zielt auf den Konflikt zwischen den Kräften, die für die Transformation des Homo sapiens vom Neolithikum bis zum Nuklearzeitalter verantwortlich sind, und den anderen Kräften, die jeweils für die Aufrechterhaltung der Reproduktion und die Stabilität der menschlichen Kollektive sowie der gesellschaftlichen Bedingungen sorgen. Wobei sie sich den Kräften der Transformation in den meisten Phasen der Geschichte erfolgreich widersetzt haben.

In meinen Augen ist dies die zentrale theoretische Frage, die uns durch die „DNA-Perspektiven“ nahe gelegt wird. Die Balance zwischen den Kräften von Veränderung und Beharrung hat sich heute entscheidend zu dem zweiten Pol hin verschoben. Und zwar in einem Ausmaß, das die Menschen heute vielleicht gar nicht mehr begreifen können. Und fast sicher in einem Maße, das die beharrenden Kräfte der Kontrolle der gesellschaftlichen und politischen Institutionen entzieht.

Vielleicht können uns marxistische Historiker wenigstens zum Verständnis dessen verhelfen, wie es dazu kommen konnte. Schließlich haben sie im 20. Jahrhundert selbst die praktische Erfahrung hinter sich gebracht, wie man es versäumen kann, die unbeabsichtigten und unerwünschten Folgen eines kollektiven Projekts zu erkennen.

deutsch von Niels Kadritzke

* Marxistischer Historiker. Autor u. a. von „Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“, (Hanser), München 1995. Zuletzt „Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780“, Frankfurt am Main (Campus) 2004, 2. Auflage.

Fußnoten:

1Marx Engels Werke (MEW), Bd. 3 (Berlin, DDR 1969), S. 7.

2Leopold von Ranke (1795–1886) gilt als „Vater der objektiven Geschichtswissenschaft“ und bedeutendster Repräsentant der Universalgeschichte. Seine „Weltgeschichte“ (1881–1888) blieb unvollendet.

3 Der Brite Lawrence Stone (1920–1999) lehrte in Oxford und Princeton und war einer der einflussreichsten Sozialhistoriker. Er schrieb u. a. „Die Ursachen der englischen Revolution“, Frankfurt 1983, und „The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800“, New York 1977.

4Der Österreicher Karl Kautsky (1854–1938) und der Russe Georgi Plechanow (1856–1918) waren maßgebliche Historiker und Theoretiker der Sozialistischen Internationale.

5Max Weber (1864–1920), der bedeutendste deutschsprachige politische Soziologe, hat unter anderem den Zusammenhang von protestantischer Ethik und Kapitalismus untersucht.

6Emile Durkheim (1858–1917) gilt als „Vater der modernen Soziologie“ und der soziologischen Methode.

7Michael Postan war seit 1937 Professor für Wirtschaftsgeschichte in Cambridge. Er initiierte zusammen mit Fernand Braudel die Gründung der „Association internationale de l‘histoire économique“.

8Während der Regierungszeit der hinduistischen Bharatiya Janata (BJP) von 1999 bis Mai 2004.

9 Raritan XXI, 1 (2001), S. 52–66. Ein gutes Beispiel für solche Studien sind die drei Bände von: „Les Lieux de Mémoire“, hg. von Pierre Nora, Paris (Gallimard) 1984, 1986 und 1993. Jay Winter ist Professor an der Columbia University in New York und arbeitet vor allem über die Geschichte der Kriege im 20. Jahrhundert.

10Siehe etwa Hayden White, „Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen“, Stuttgart (Klett) 1991.

11Fernand Braudel (1902–1985), einer der bedeutendsten Sozialhistoriker; Mitbegründer der „École des Annales“ (zusammen mit Marc Bloch und Lucien Febvre). Seine wichtigsten Werke: „Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts“ (3 Bände), München (Kindler) 1985 f. und: „Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II.“, Frankfurt (Suhrkamp) 1990.

12Charles Darwin (1809–1882) begründete die darwinistische Evolutionstheorie, die auf der Annahme der „natürlichen Zuchtwahl“ basiert.

13Jean-Baptiste Lamarck (1744–1829), französischer Naturforscher, der als Erster die Vorstellung von der Unveränderlichkeit der Arten verwarf.

14Meme sind nach dem britischen Biologen und Wissenschaftsphilosophen Richard Dawkins („Das egoistische Gen“, 1976) die kulturellen Äquivalente für die Gene und unterliegen wie diese einem evolutionären Prozess.

15Zitiert nach: J. Revel und Lynn Hunt, „Histories: French Constructions of the Past“, New York 1995, S. 77 f.