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Archiv-Artikel

Zeitverzögert in die Tiefe

Spannungsreiches Dokumentartheater an der Studiobühne der Humboldt-Universität

Meeresrauschen ertönt aus den Boxen, zuweilen mischt sich das Kreischen ferner Möwen dazu. Die Studiobühne der Humboldt-Universität verwandelt sich in ein Frachtschiff. Auf dem Boden sitzen drei Männer und warten, seit Wochen, seit ihr Frachter, die „Labici B“, im Hafen von Cádiz von der spanischen Behörde beschlagnahmt wurde und der Reeder spurlos verschwand mitsamt der Heuer von drei Monaten.

Das Theaterstück „Die Männer vom Frachter Labici B“ ist angelehnt an den vor zwei Jahren von François Chilowicz herausgebrachten Dokumentarfilm „Les hommes du Labici B“. Hunderte von Seeleuten teilen das Schicksal, ohne Heuer mit dem Schiff vom Eigner sitzen gelassen zu werden, wie die Internationale Transportarbeiter-Föderation jährlich verzeichnet. Für die Bühne hat Olaf Dröge das dokumentarische Drama bearbeitet: Dröge, 24 und Student der Theaterwissenschaft, ist seit fünf Jahren in der Berliner Off-Theater-Szene als Schauspieler und Regisseur engagiert. Ihm ist es gelungen, aus dem Zustand der Lähmung und Hilflosigkeit, der die Männer auf dem Frachter ergreift, mit einfachen Mitteln eine packende Geschichte zu erzählen.

Der Maschinist Iggy (Jef Bayonne), der Deckarbeiter Simon (Bernhard Herzog) und der Smutje Eric (Olaf Dröge) verharren auf dem Frachter. Wohin sollen sie auch gehen? Sich zu den restlichen Arbeitslosen gesellen? Dann bleiben sie doch lieber auf dem Schiff und – warten. Ihr Plan ist, das Schiff zu verkaufen. Simon hat auch schon einen Anwärter aus Amsterdam gefunden, nur die notwendigen Papiere fehlen noch. Doch der Reeder aus Amsterdam erscheint nicht. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist Zeit. Die aber geht nicht vorbei, sie muss vertrieben werden. Mit Gesang, Glücksspiel und Gewalt.

Ohne Handlung, ohne jegliche Entwicklung wächst die Bedeutung der einzelnen Charaktere. Während sich Eric in die Welt seiner Fantasie flüchtet, ist Simon, der Deckarbeiter, eher von mürrischem Gemüt, mit einer rauen, bisweilen derben Sprache. Er kann nur noch auf dem Meer leben, wie er sagt. In der Stadt reicht ihm die Luft zum Atmen nicht. All die Vorschriften, Regelungen und Erwartungen, unter denen der Mensch nur noch wie eine Maschine zu funktionieren hat, schnüren ihm die Kehle zu.

Auf den Gebrauch technischer Mittel verzichtet die Inszenierung weitestgehend. Bilder entstehen neben dem gesprochenen Text vor allem durch die Körperarbeit der Schauspieler. Ihre Spielfreude ist ansteckend, zunehmend entfaltet das Stück seine Spannung. Plötzlich werden aus den Figuren drei Stewards und wir befinden uns in einem Flugzeug, das zeitverzögert in die Tiefe stürzt. Mit der Verwendung der Sprachen Deutsch, Englisch und Französisch verwischen die Konturen von Raum und Zeit. Ein Pendeln zwischen Verstehen und Nichtverstehen, zwischen Ordnung und Chaos setzt ein.

So endet das Stück auch mit der Überlegung, ob Iggy von Bord gegangen ist oder Simon alle erschossen hat, nachdem das erste Päckchen Kokain, das Eric hinter dem Küchenschrank gefunden hat, in Terpentin aufgegangen ist. Es gibt keine Erlösung von der Ungewissheit, was aus ihnen werden kann.

SANDRA SCHNEIDER

„Die Männer vom Frachter Labici B“, 10./11. + 16./17./18. Dez., Studiobühne Mitte, Sophienstraße 22 a, 20 Uhr