: Ein verrücktes Haus
Das berühmte Moskauer Zylinderhaus des russischen Avantgarde-Architekten Konstantin Melnikow verfällt. Die einzige Chance, es noch zu retten, ist westlicher Druck auf die russischen Behörden
VON RUSLAN POLUKHIN
„Es ist ein verrücktes Haus! Es muss gerettet werden! Der Bau ist eine der Ikonen des 20. Jahrhunderts und wird zu den Meisterwerken der Moderne gezählt, genauso wie das Wittgensteinhaus in Wien oder Bauten von Mies van der Rohe!“, so Hans Kollhoff, der berühmte Berliner Architekt und Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich. Die Aufregung steigt. Der Architekt Wolfgang Döring ereifert sich noch mehr: „Die russischen Behörden [im Original: die Russen] wollen da nichts tun – sie renovieren lieber ihre alten Kirchen. Die einzige Chance, das Haus zu erhalten, ist der Druck aus dem Westen.“
Solche herausfordernden und manchmal äußerst emotionalen Äußerungen hörte man am späten Donnerstagabend in Berlin im Kinosaal des Martin-Gropius-Baus immer wieder. Der Auslöser dafür war die Veranstaltung für den Erhalt des weltberühmten Moskauer Zylinderhauses von Konstantin Melnikow, dem originellsten und wichtigsten Architekten der russischen Avantgarde.
Konstantin Melnikow (1890–1974), einer der Pioniere des russischen Konstruktivismus, schuf in den 20er-Jahren eine Inkunabel der modernen Baukunst. Nach der Rückkehr von der Pariser Weltausstellung („Exposition des Arts Décoratifs et Industriels Modernes“, 1925), wo er den Sowjetischen Pavillon präsentiert hatte, baute Melnikow im Zentrum Moskaus für sich und seine Familie ein privates Wohnhaus in Form zweier ineinander greifender Zylinder. Wohl bemerkt: Das Ganze geschah zu einer Zeit, in der das individuelle Wohnen und jede Form des Privateigentums in dem jungen sozialistischen Land undenkbar waren. Sein Haus war ein spektakuläres Experiment, eine Vision des Projekts des Massenwohnungsbaus für das Proletariat der Hauptstadt: Die rationellen und mathematisch durchkalkulierten „Bienenstöcke“ hätten nach seinen Plänen nicht nur aus zwei, sondern auch wohl aus vier, fünf oder sechs Zylindern bestehen können. Das Projekt blieb jedoch auf dem Papier, wie die meisten seiner späteren Projekte (in den 30er-Jahren wurden alle Avantgardisten und Konstruktivisten in der Sowjetunion zu „Formalisten“ erklärt, was im besten Fall das Verbot jeglicher öffentlicher künstlerischer Aktivität bedeutete). Zum Glück wohnte Melnikow zu der Zeit schon in seinem eigenen Zylinderhaus in der Kriwoarbatski Pereulok, direkt hinter dem Arbat, der heutigen Fußgängezone von Moskau.
Melnikows Zylinderbau ist ohne Zweifel ein Unikat. Für die damalige Zeit wies das Haus eine Fülle neuer architektonischer Ansätze auf, die bis heute innovativ und lebendig wirken. Im gesamten Haus gibt es keine rechtwinkeligen Räume, Raumtrennungen erfolgen zum Teil über fächerförmige Wandeinsätze. Die unorthodoxe Aufteilung im Inneren, die Lichtführung mit den über 200 sechseckigen Fenstern (das Sonnenlicht fällt so den ganzen Tag über ins Innere des Hauses), der Grundriss in Form zweier sich überlappender Kreise und viele andere überraschende Elemente machen die Einzigartigkeit dieses Meisterwerkes aus.
Doch was ist mit dem Zylinderhaus heute? Die Situation ist leider sehr bedrohlich und ernst: Das mehr als siebzig Jahre alte Gebäude verfällt und ist durch die aggressive Immobilienpolitik des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow bedroht. Man müsste das Melnikow-Haus dringend restaurieren und diesmal richtig (nach sämtlichen laienhaften Renovierungsarbeiten in den 90er-Jahren, die eher schmerzvoll für die Bewohner, den Sohn von Melnikow, Wiktor Melnikow, und seine Familie waren). Dafür braucht man Geld und die Unterstützung aus dem Ausland, meinte Wiktor Melnikow, sonst bewegt sich nichts mehr. Um diese Hilfe zu erbitten, kam der neunzigjährige Maler aus Moskau mit dem Zug nach Berlin und sprach im Martin-Gropius-Bau. Im Rahmen der Ausstellung „Licht und Farbe in der Russischen Avantgarde“ versucht der Sohn die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf das Meisterwerk seines Vaters zu richten. Vielleicht ist Berlin die richtige Stadt dafür – Geschichts- und Kunstvernichtung war hier ja auch mal aktuelles Thema.