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Archiv-Artikel

Einfache Botschaften: „Tipping the Velvet“ im Metropolis Fernsehküsse zur Hauptweihnachtszeit

Im Januar 1989 strahlte die BBC den ersten homosexuellen Kuss ihrer Geschichte aus – und erntete prompt einen Sturm der Entrüstung seitens der Regenbogenpresse und konservativer Politiker. So berichtete The Sun, dass Parlamentsmitglieder die Absetzung der Serie EastEnders gefordert haben, da es zur Hauptsendezeit – „wenn Millionen von Kindern zuschauen“ – „zu vollem Lippenkontakt“ zwischen zwei Männern gekommen sei. Die homofeindliche Haltung des Parlaments war bereits im Vorjahr deutlich zu Tage getreten: Mit dem umstrittenen Paragraphen 28 hatte es jegliche „öffentliche Werbung“ für Homosexualität, die diese etwa als alternative Familienform darstelle, strafrechtlich verboten. Doch die BBC ließ sich nicht beirren. Sie ließ in den Folgejahren nicht nur zahlreiche Homo-TV-Küsse über britische Bildschirme flimmern, sondern sendete 1990 mit Oranges are not the only fruit die erste Mini-Serie, in der zwei lesbische Mädchen die Hauptrolle spielten. Der Drei-Teiler erntete zahlreiche Preise, unter anderem 1991 den Bafta-Preis für das beste TV-Drama des Jahres.

Insofern steht die BBC-Produktion Tipping the Velvet, zur Hauptweihnachtszeit im Metropolis zu sehen, in bester Tradition einer risikofreudigen Programmgestaltung seitens öffentlicher Sender. Abermals zeigte die BBC den Mut, zur besten Sendezeit keine heterosexuellen Konstellationen darzubieten, sondern lesbische Geschichten zu zeigen – und wurde erneut mit hohen Einschaltquoten und zahlreichen Preisen belohnt. Zu Recht, hat Tipping the Velvet doch einiges zu bieten.

Als historisches Melodram hängt die Glaubwürdigkeit des Films von Schauplätzen, Kostümen, Requisiten ab – die so sorgfältig gewählt sind, dass man sich gern auf seine 1890er Gegenwelt einlässt. Herausragend ist insbesondere die Dramaturgie der Serie. Was den gleichnamigen Roman von Sarah Waters (auf deutsch Die Muschelöffnerin) auszeichnet – der gut geführte Spannungsbogen, der Zeit- und Lebensgeschichte verbindet – findet sich schnurgerade im Film wieder an.

Und so kann man ohne Umstände in die Welt der Nancy Astley eintauchen, deren Werdegang von der Austernschälerin über die Musik Halls von London in die Prostitution verläuft und in den ArbeiterInnenkampf hineinreicht. Gerade weil ein so bewegtes Leben portraitiert wird, führen Roman und Film in sehr unterschiedliche Schichten und Lebensentwürfe des viktorianischen Zeitalters ein – und bieten so vielfachen Anlass zum Staunen. Denn nicht Prüderie und eindeutige Rollenentwürfe bestimmen das Bild, sondern vielmehr wird sich in die Brüche und Randzonen einer Zeit gewagt, die viele soziale, technische und politische Umwälzungen umfasst: Das lange 19. Jahrhundert.

So berühren die Zuschauenden die Welt der Music Halls, die auch der ArbeiterInnenklasse Unterhaltung versprach und in denen die ,Hosenrolle‘, die Verkörperung von Männern durch Frauen, ein selbstverständlicher Bestandteil war. Denn Nancy Astley verliebt sich in Kitty Butler, die auf der Bühne in Männerkleidern auftritt, folgt ihr nach London und ist bald selbst Teil der Bühnenshow, ebenfalls als Mann verkleidet. Doch für Nan – wie sie sich fortan nennt – ist die Hosenrolle weit mehr als ein Theaterspiel, es ist ein Lebenskonzept, das ihr später als ,männliche‘ Prostituierte erlaubt, ihren Lebensunterhalt zu verdienen und unbehelligt durch die Straßen Londons zu streifen.

Aufgegriffen von einer reichen Dame, muss sie erst zur Sexsklavin werden, bevor sie, auf die Straße geworfen und vollends verelendet, Zuflucht bei der sozial engagierten Florence findet und ihren eigenen Umgang mit Geschlecht und Sexualität findet. Ein universelles Thema der Selbstfindung, wie die Darstellerin von Nan, Rachael Stirling, befindet: „Jeder und jede, die aufwächst, sich verliebt und darum kämpft, den eigenen Lebensweg zu finden, kann sich mit Nan identifizieren.“ Wenn deutsche Fernsehanstalten diese einfache Botschaft verstehen und umsetzen würden, wäre Weihnachten perfekt. Doro Wiese

Do, 20 Uhr und Mo, 20.30 Uhr, Metropolis