: Briefe an die Tochter
„Grüß den Kanzler schön von mir“, schrieb Vera Klujewas Mutter an die Tochter in Berlin. Jetzt liegen ihre Briefe als Buch vor
VON WALTRAUD SCHWAB
Vera Klujewas Mutter, sie heißt Natalja Nikolajewa, schreibt Briefe so, wie sie auch redet: facettenreich, detailgenau und wie es gerade kommt. Auf eigenwillige Weise ist sie dabei ins Geschehen involviert und gleichzeitig abwesend. So kann sie ertragen, dass ihr Alltag in Sankt Petersburg dem in einem Irrenhaus gleicht. Vor allem Mitte der Neunzigerjahre war das so.
Zu jener Zeit lebte Klujewa, die Tochter, bereits in Berlin. Eine Banklehre machte sie. Nicht gerade der Traum einer Germanistin, aber in Russland, wo sie sich mit den verrücktesten Jobs über Wasser gehalten hatte, sah Klujewa keine Perspektive mehr. Übersetzen für die Vertreter von Jogurtherstellern, Computervertreibern, Musikproduzenten? Übersetzen für so genannte Businessmeni, die einem Reichtum frönen, der Vera Klujewa, aber vor allem ihre Sandkastenfreundin Anja Tchepets anwidert? Tchepets hat es Mitte der Neunzigerjahre gleichfalls nach Berlin verschlagen. „Wenn du die Reichen kennen lernst, dann erschrickst du“, sagt sie. „Wir sind noch als Pioniere aufgewachsen. Da war Idealismus.“ Jetzt, wo Sozialismus und Kommunismus weggefegt seien, gehe es nur noch ums Geld, meint Tschepets schulterzuckend. Die beiden Russinnen sitzen in der schmalen Küche von Klujewa, an der eine alte Schultafel mit russischen Verb-Konjugationen hängt. „Ja pischu, te pischesch, on pischet – ich schreibe, du schreibst, er schreibt.
Tchepets versucht die Gründe für die Veränderungen in Russland zu finden, die Vera Klujewas Mutter in den Briefen an ihre Tochter einfach beschreibt. Sie berichtet vom Alltag derer, die sich nach der Decke strecken müssen, von Lärm, Alkohol und der Vernachlässigung der Seele. Dass Veras Mutter das in ihren Briefen an die Tochter in Berlin aufgeschrieben hat, wirkt heute wie einer jener Zufälle, die ihre Bedeutung nicht im Augenblick des Tuns, sondern erst später erhalten. Seitenlang sind ihre Briefe. Manchmal über mehrere Tage verfasst. Kleinode der Befindlichkeit. Sechs Aktenorder voll davon stehen heute in der Weddinger Wohnung der Tochter.
Vera Klujewa und Anja Tchepets sind wie Schwestern aufgewachsen. Zwei Töchter aus Ein-Kind-Familien. Tchepets Du für Klujewas Mutter ist nahe an ihrem Herzen. Wenn ihre Schwester-Freundin Briefe von der Mutter erhalten hat, waren sie auch ein bisschen für sie, die Freundin-Tochter. Tchepets aber, mit einem Bein zur Familie gehörig, mit dem anderen Beobachterin, spürte dem Wert der mütterlichen Mitteilungen jenseits des Privaten nach. Mit jedem neuen Brief weiß Tchepets, dass sie mehr sind als nur die Gedanken einer geschwätzigen Hausfrau. Wäre sie Musikerin, hätte sie daraus ein Musical machen können. Wäre sie Filmproduzentin, hätte sie darin den Stoff für eine Seifenoper entdeckt. Als Grafikerin aber grübelte sie darüber nach, wie sie sie bildnerisch bearbeiten könnte.
An dieser Stelle tritt die Dritte der Freundinnen in Erscheinung: Friederike Meltendorf. Deren Sandkastenfreundin heißt Bettina von Arps. 1989, kurz nach dem Abitur und noch vor dem Fall der Mauer, reisten die beiden nach Russland, sie wollten ja Russisch studieren. Im „Club der Seemänner“ lernten sie Klujewa kennen. Die wiederum wollte Germanistik belegen und hatte sich dank passender Beziehungen im Club eingefunden. „Verstanden haben wir uns auf der Stelle, obwohl wir nichts verstanden haben“, sagt Meltendorf. „Aber bald brachtet ihr uns Sätze bei. Solche wie: ‚Ich glaub, ich steh im Wald‘.“
Kaum war die Mauer weg, reisten Tchepets und Klujewa nach Berlin, um die neue Freundschaft zu festigen. So ging das hin und her. Bis die Russinnen gut Deutsch und die Deutschen gut Russisch sprachen. Am Ende wurde Berlin immer mehr Dreh- und Angelpunkt der Begegnungen. Mitte der Neunzigerjahre fanden sich die Freundinnen alle in der neuen Hauptstadt ein.
Die beiden Russinnen leben gerne in Berlin. „Russland hat sich dramatisch verändert“, meint Tchepets. „Wir gehören da nicht mehr hin.“ Aber in Russland passiert doch was, da wird experimentiert“, interveniert Meltendorf. „Du kennst nur Künstler, nicht den Alltag“, widerspricht Klujewa. Berlin, diese Ost-West-Stadt, erinnere sie heute an jenes Sankt Petersburg, das sie einmal liebte. „Berlin ist Heimat“, sagt sie.
Tschepets studiert an der Kunsthochschule Weißensee. Ihr Plan: eine Computeranimation zu entwickeln, die die Briefe von Veras Mutter illustriert. Sie fragte Meltendorf, ob sie nicht ein paar Briefe übersetzen könne. Meltendorf konnte. Am Ende entstand daraus das Buch – ein privates Dokument aus einem chaotischen Alltag.
Heute allerdings ist das alles schon wieder Vergangenheit. Vera Klujewa und ihre Mutter schreiben sich nicht mehr. Seit es billiger ist, nach Russland zu telefonieren, telefonieren sie. „Schon komisch, dass man aufhört zu schreiben“, meint die Bankangestellte. „Dabei haben wir es doch so gerne getan.“