: Der Aschenbrödler
Vor 30 Jahren drehte der Václav Vorlíček den Märchen-Klassiker „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“. Ein Treffen mit dem Regisseur in Prag
aus Prag NAVA EBRAHIMI
Ein Mädchen reitet durch einen verschneiten Wald, sein kastanienbraunes Haar weht im Wind und es summt eine Melodie. Das Mädchen ist in Lumpen gekleidet, aber trotzdem wunderschön, elfengleich.
Václav Vorlíček sitzt im Café Slavia an einem Fenster mit Blick auf die Moldau und raucht. Er sieht nicht aus wie 73, höchstens wie Mitte 60. Er sieht auch nicht aus wie ein Märchenonkel, eher wie ein ganz normaler Rentner, mit Halbglatze und großen Ohren. Sein Wollpulli ist genauso sandfarben wie die Cordhose, die er trägt. Er trinkt Grog und sagt, dass die Menschen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ lieben, weil sie sentimental seien. Na ja, sein Werk wurde auf dem internationalen Kinderfilmfestival im tschechischen Zlín 1999 wohl kaum deshalb zum „Märchenfilm des 20. Jahrhunderts“ gekürt, weil er die Gemüter streichelt.
Die Vorlage stammt von der tschechischen Schriftstellerin Božena Němcová, die Mitte des 19. Jahrhunderts lebte, und unterscheidet sich kaum von anderen Cinderella-Märchen. Was Václav Vorlíček aus der Vorlage gemacht hat, unterscheidet sich allerdings wesentlich von anderen Aschenbrödeln. So wesentlich, dass der Kölner Erziehungswissenschaftler Dieter Matthias schreibt: „Sie ist eine autarke, aus sich selbst heraus starke Frauenfigur voller jugendlicher Anmut, die weder irgendeinem Mann zu gefallen sucht noch aus dessen Perspektive ins Bild tritt.“ Männer dagegen verhielten sich insgesamt unreifer und hilfloser als die Frauen.
Ein wahrer Glücksgriff etwa war die 21-jährige Schauspielerin Libuše Šafránková als Aschenbrödel. Ihretwegen mochten sogar Jungs den Märchenfilm. „Nach ‚Drei Haselnüsse für Aschenbrödel‘ wusste ich genau, wie das Mädchen aussehen musste, das ich heiraten wollte“, schreibt der Schriftsteller Stefan Beuse.
Anders als im tschechischen Original bleibt einem übrigens in der deutschen Version Karel Gott erspart. Hier hören wir das Prager Symphonieorchester pur. Der WDR wollte Karel Gott damals nicht, weil der bereits die „Biene Maja“ sang, und die lief im ZDF. „Kann sein, dass Karel das bis heute nicht weiß“, sagt Václav Vorlíček und lacht.
Und eigentlich sollte Aschenbrödel über Blumenwiesen hüpfen, erzählt Václav Vorlíček. Ein Wintermärchen sei es nur deshalb geworden, damit die staatlichen Babelsberger Defa-Studios auch im Winter etwas zu tun hatten – denn die Defa war Koproduzent. „Der Studiodirektor war so glücklich darüber, dass er mich in den Arm genommen und abgeküsst hat“, sagt Václav Vorlíček und nimmt einen Schluck Grog, „aber Gott sei dank war er rasiert.“
Dann erzählt er aus seiner Kindheit: „Am liebsten mochte ich die Geschichten mit den Toten, die wieder lebendig werden, wie heißen die heute?“ – Zombies, er mochte am liebsten Zombiegeschichten. So wie seine Augen strahlen, mag er sie auch heute noch. Doch die meisten seiner weit über 30 Filme sind Märchen. Auch deshalb, weil es in der Tschechoslowakei nach der Niederschlagung des Prager Frühlings unverfänglicher war, Märchen zu erzählen.
Im Westen, in der alten Bundesrepublik, habe es damals an guten Kinderfilmen gemangelt, sagt Gert K. Müntefering, in den 70er- und 80er-Jahren Leiter des WDR-Kinderfernsehens. Geld sei da gewesen, aber leider keine Ideen: „Hier entstand nur so ein operettenhafter Mist.“ Müntefering beauftragte Václav Vorlíček, und bald waren Serien wie „Der fliegende Ferdinand“, „Die Märchenbraut“ und „Der Zauberrabe Rumburak“ in der ARD zu sehen. Alltagsmärchen in ganz normalen Häusern, mit ganz normalen Menschen, sonderbar komisch und manchmal ironisch.
Wer in den Siebziger- oder Achtzigerjahren Kind war und fernsehen durfte, ist mit diesen Märchenwelten groß geworden. „Deutsche und Skandinavier wollten erziehen, die Tschechen erzählen“, sagt Müntefering, „das war der wesentliche Unterschied.“
In Böhmen waren Märchen traditionell wichtiger Teil der Alltagskultur, in den Zwanzigerjahren schon entstanden in Prag die ersten Märchenfilme. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die gesamte Filmproduktion verstaatlicht – und ein Teil des Etats eigens für Kinderfilme reserviert. Von den Sechzigern bis zur politischen Wende 1989 blühte die Produktion, jährlich entstanden bis zu zwölf lange Kinderspielfilme, dazu etliche Trickfilme. Der ČSSR brachte es neben Devisen auch Anerkennung in der westlichen Welt.
Doch das Staatsgeld für Vorlíčeks Kinderfilme brachte auch staatliche Zensoren auf Plan. „Hauptdramaturgen“ nannten sie sich. Es scheint jedoch, als habe ihn die Zensur nie wirklich gestört. Einmal habe der Zensor verboten, dass ein Offizier Soldaten im Film androht, sie in den Wald zu den Bären zu schicken, erzählt Vorlíček: Man fürchtete, mit den Bären könnten im Klartext die Russen gemeint sein. „Also habe ich aus den Bären einfach Eichkätzchen gemacht.“ Er wiederholt es mehrmals, so sehr amüsiert es ihn.
Vorlíček konnte auch nach 1989, als die staatliche Finanzierung wegfiel, weiterarbeiten. Als Regisseur von „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ bekam er genügend Angebote aus dem Ausland. Zurzeit arbeitet er mit einem deutschen Produzenten an der Verfilmung von „Kalif Storch“. Danach möchte er eine Geschichte aus der tschechischen Mythologie umsetzen, „Der Lange, der Dicke und der Scharfsehende“ lautet der Arbeitstitel: „Der Dicke kann einen ganzen See aufsaugen.“ Václav Vorlíček atmet tief ein, bläst die Backen auf und hält die Luft an. Er atmet aus. Nein, ganz normal sei er nicht, eher ein wenig verrückt, sagt er. Wer seine Filme kennt, weiß, was er damit meint. Selbst im sentimentalen „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ versteckt sich Vorlíčeks Humor. Etwa wenn das Mädchen, mit dem der Prinz den Tanz eröffnen muss, zirka 130 Kilo auf die Waage bringt. Und wie heißt die Arme? Kleinröschen.
„Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ 24. 12., 21.45 Uhr WDR; 25. 12.,13.00 Uhr RBB Berlin; 15.55 Uhr MDR (Hörfilm); 16.40 Uhr NDR; 26. 12., 10.40 Uhr WDR; 14.35 Uhr RBB;28. 12., 12.00 Uhr Kika