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Archiv-Artikel

Entdecke das Tier in dir!

VON DIRK KNIPPHALSUND ULRIKE WINKELMANN

Es gibt viele seltsame Tiere, doch keines ist seltsamer als der Mensch. Alles an ihm ist voller Widersprüche und Ungereimtheiten. Von einer tierischen Perspektive aus betrachtet, muss sein Verhalten geradezu paradox und unbegreiflich erscheinen.

Menschen lieben Tiere, und sie essen sie. Menschen quälen Tiere, und sie pflegen sie. Die Computeranimation eines Clownfisches genügt, und schon sorgt sich die Menschheit um den Lebensraum der realen Nemos – den sie auf der anderen Seite gerade dabei ist zu zerstören. Manche Tiere, Hamster etwa, lösen bei Menschen Beschützerinstinkte aus. Andere Tiere, die nicht viel anders aussehen, Ratten etwa, bewirken Ausrottungsphantasien. Wie immer man das Verhältnis des Menschen zu Tieren charakterisieren möchte – ob als zweckrational oder romantisch, grausam oder liebevoll –, die Charakterisierung ist wahr; genauso wie ihr Gegenteil.

Nur ein Merkmal zieht sich bei alledem durch: Der Mensch neigt dazu, sich in der Natur für etwas Besonderes zu halten, grundsätzlich und immer schon. Tiere sind für diese Selbstüberhöhung als wunderbare Hilfsmittel geeignet. Tiere dienen dem Menschen dazu, sich stets selbst als denkend, wollend und fühlend neu zu erfinden: alles unvernünftige Kreaturen außer Adam und Eva.

Doch merkwürdig: Je schlauer die Menschen werden, desto mehr Erkenntnisse produzieren sie, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Die Tiere rücken näher. Im Wochentakt warten die Naturwissenschaften mittlerweile mit Nachrichten aus dem Tierreich auf, deren Botschaften sich auch immer so verstehen lässt: So anders bist du nicht, Mensch! Erst waren es nur die Menschenaffen und Delfine, die auch als klug galten; mittlerweile müssen wir damit leben, dass auch Tintenfische und Krähen enorm lernfähig sind. Um die Intelligenz eines Ameisenstaates zu begreifen, zergrübeln die hellsten Köpfe der Menschen ganze Forscherleben. Und auch das feministische Gemüt kann sich nicht der Beobachtung verschließen, dass das menschliche Sexualverhalten nur eine Variation in einem etwa von Guppies, Bonoboäffchen oder Wirrkopf-Antilopen aufgestellten Möglichkeitsfeld darstellt.

Blöde Biologen. Natürlich kann jemand, der sich den ganzen Tag über Mikroskope beugt, irgendwann seine Geliebte nicht mehr von einer Amöbe unterscheiden. Aber wozu haben wir die Geisteswissenschaften und die Literatur? Hier war seit jeder die Aufgabe angesiedelt, das Besondere, das Menschliche nämlich, zu behaupten. Doch: J. M. Coetzee bekommt den Nobelpreis für Literatur – ein Schriftsteller, der sich mit der Frage auseinander setzt, wie menschlich der Mensch im Umgang mit Tieren tatsächlich ist. Raimond Gaita philosophiert in „Der Hund des Philosophen“ darüber, was geschieht, wenn ein Mensch sich Hund und Katze zulegt – und erst wenige Tage auf dem Markt, ist das Buch bereits einer der meistdiskutierten Titel der Saison. Es ist, als wollten sich die Humanisten beim Tier dafür entschuldigen, dass sie sich so lange nur mit sich selbst beschäftigt haben.

Tierschützer werden jetzt triumphierend auflachen. Doch es gab auch immer gute Grunde, darauf zu verweisen, dass es wichtiger sein könnte, Menschen zu retten als marokkanische Straßenhunde. Allerdings ist immerhin möglich, dass gerade jetzt eine neue Runde in der Diskussion eingeläutet wird um den Abgrund an Heuchelei zwischen der industriellen Massenproduktion von Tierfleisch und der individuellen Filzdekoration von Hundekörben. Um das Maß an Fühlen und Wollen, das sich der Mensch herausnimmt und den Tieren aber gleichzeitig abspricht.

Entdecke das Tier in dir! Das ist in der Menschenwelt nicht mehr als ein Werbespruch. Das Wilde und Animalische, mit der die Menschen die Tierwelt gern belegen, sind oft nichts weiter als romantische Projektionen. In seinem „Bericht an eine Akademie“ lässt Kafka den Affen Rotpeter dagegen sagen: „An der Ferse kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles.“ Vielleicht ist Weihnachten ein gar nicht so übler Zeitpunkt dafür, darüber nachzudenken, ob in der Krippe nicht eigentlich ebensogut ein Schimpansenbaby hätte liegen können. Oder ob das mittlerweile gebratene Tier auf dem Tisch wohl jemals Wärme und Sonne erlebt hat.

Dirk Knipphals, 40, ist taz-Kulturressortleiter. Ulrike Winkelmann, 32, ist taz-Inlandsredakteurin.