piwik no script img

Archiv-Artikel

Praktizierter Nationalismus

Peter Glotz wäre beinah ein neuer Ansatz in der Vertriebenendebatte gelungen. Doch am Ende sind wieder vor allem die Deutschen die Opfer

von SABINE VOGEL

„Ausländer raus!“ Hinter dieser Parole verbergen sich gut 200 Jahre europäischer Geschichte. Denn was ist ein „Ausländer“, was unterscheidet ihn vom „Inländer“? Seine Sprache? Sein Geburtsort? Sein Charakter? Und: Was verbindet die „Inländer“? Wer hat das Recht, in einem „Land“ zu leben? Diese Fragen sind in ganz Europa diskutiert worden, mit Worten und mit Taten. Nationalismus ist das Stichwort, unter dem die Bücher zum Thema zu finden sind. Vertreibungen sind die grausame praktische Seite dieser Debatte.

Peter Glotz versucht mit seinem Buch „Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück“ beide Aspekte zu verbinden. Als Sohn eines Sudetendeutschen und einer Tschechin hat er eine denkbar günstige Ausgangsposition. Alle Aspekte des Themas sind versammelt: die unterschiedliche ethnische Zugehörigkeit der Eltern, die Integration durch die Ehe und schließlich die Flucht der Familie von Eger nach Franken, mit der sie einer gewaltsamen Vertreibung zuvorkam.

Glotz gliedert seine Darstellung chronologisch in sechs Kapitel, von denen die ersten vier die Zeit bis zum Münchener Abkommen beschreiben. Das fünfte Kapitel behandelt die Zeit der NS-Herrschaft und das sechste die Vertreibung der Deutschen aus Böhmen. In der Chronologie greift Glotz weit zurück: Um das 5. bis 6. Jahrhundert nach Christus wurde Böhmen von Slawen besiedelt, seit dem 12. Jahrhundert warben slawische Grundherren deutsche Bauern an, damit diese sich niederließen und das Land urbar machten. So kommt Glotz zu seiner Ausgangsthese: Über 800 Jahre war Böhmen von Tschechen und Deutschen gemeinsam bewohnt und fast ebenso lange löste die ethnische Zugehörigkeit oft blutige Streitigkeiten aus.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen die Auseinandersetzungen dann an Schärfe zu, denn jetzt ging es nicht länger allein um die Durchsetzung von Machtansprüchen auf lokaler Ebene, sondern um die Gründung eines Nationalstaates. Fast die Hälfte des Buches behandeln die Machtübernahme der Nazis im nun „Sudetengau“ genannten Gebiet, also Vorgeschichte zur Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen. Interessant ist hier die von Glotz gewählte Perspektive: Er zeichnet das politische Taktieren des Chefs der tschechischen Exilregierung Edvard Beneš nach. Erst im Verlauf des Krieges kam er zu der Überzeugung, dass die Deutschen nach dem Sieg der Alliierten aus dem Land vertrieben werden müssten. Seinen Dekreten und deren Umsetzung ist das letzte Kapitel gewidmet – wobei Augenzeugenberichte von den Vertreibungen einen großen Raum einnehmen.

Glotz hat etwas Ungewöhnliches versucht: ein populärwissenschaftliches Buch zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei, das eine sozialdemokratische Perspektive einnimmt. Schließlich dominiert seit Jahrzehnten der Bund der Vertriebenen das Thema. Dessen Funktionäre schwingen sich zu Repräsentanten aller Vertriebenen auf, obwohl sie in ihrem kompromisslosen Beharren auf dem Unrecht, das die Deutschen durch ihre Vertreibung erfahren haben, nur Positionen einer kleinen konservativen Minderheit vertreten. So ist es ihnen bis vor einigen Jahren gelungen, die Geschichte der Vertreibung zu monopolisieren und damit eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung zu verhindern.

Das Buch von Peter Glotz ist hier hoffentlich ein neuer Anfang. Es betritt thematisch Neuland, indem es die Vertreibung der Deutschen als Teil einer nahezu tausendjährigen Entwicklung beschreibt: von der gern bemühten Frage „Wer war zuerst da?“ (die Slawen) über eine Geistesgeschichte der Idee vom ethnisch homogenen Nationalstaat und dessen bestialischer Umsetzung durch die Nationalsozialisten bis schließlich zur Vertreibung der Deutschen durch die Tschechen.

Dass Peter Glotz’ Buch dennoch einen schalen Eindruck hinterlässt, liegt nicht am Zuschnitt des Themas, sondern an der Umsetzung. Die Gliederung und Darstellung sind wenig stringent, auch die Zwischenüberschriften haben oft einen eher provisorischen Charakter. Glotz stellt etwa die Entwicklung der nationalistischen Ideen in Böhmen dar, indem er schlicht von einem Ereignis zum nächsten springt, Denker, Theoretiker und Politiker nennt und Kernsätze ihrer Texte zitiert.

Nur, selbst wenn er das alles zutreffend berichtet, es erschließt sich beim Lesen dennoch kaum. Denn: Der zunehmende tschechische Nationalismus war Teil eines gesamteuropäischen Prozesses, der aus der Perspektive der böhmischen Ereignisse allein nicht erkennbar wird. So ist etwa der in Böhmen um 1880 vehement geführte Streit darum, ob der Schriftverkehr mit den Behörden auf Deutsch oder Tschechisch geführt werden sollte, keineswegs ein böhmisches Spezifikum. Auch in Frankreich, Deutschland, Belgien und Italien nutzte man die Sprache als Mittel, die Nation zu vereinheitlichen. Glotz verzichtet darauf, das „Lehrstück Böhmen“ in diesen Kontext einzuordnen, und beschränkt sich darauf, in den Literaturhinweisen am Ende des Buches die grundlegenden Werke zum Nationalismus von Kohn, Gellner und Hobsbawm zu erwähnen.

Indem sich Glotz auf die böhmischen Ereignisse beschränkt, bleibt auch der Bezug zur nationalstaatlichen Entwicklung in Deutschland vage. Gerade hier wäre es lehrreich gewesen, zu erfahren, wie sich die deutschen Debatten um „kleindeutsche“ und „großdeutsche“ Lösung mit der Identitätsbildung der Sudetendeutschen verschränkten. Wie kam es dazu, dass sich die deutschsprachigen Böhmen, nachdem sie seit Jahrhunderten zum habsburgischen Vielvölkerreich gehört hatten, sich nicht mehr nach Wien, sondern zunehmend nach Deutschland orientierten?

Das Buch schließt, etwas unvermittelt, mit einem Epilog, in dem Glotz die „Lehren“ aus der Geschichte in zehn Punkten zusammenfasst. In einem leidenschaftlichen Plädoyer setzt er sich für das Ende des Nationalismus, das friedliche Zusammenleben unterschiedlicher ethnischer Gruppen in einem Staat und einen gesetzlich verankerten Minderheitenschutz ein – auf dem Balkan und Afrika.

Sein „Lehrstück“ beschränkt sich also auf ferne Zeiten und Regionen. Er ignoriert völlig die gegenwärtig brisante Frage, wie die deutsche Gesellschaft mit ihren Einwanderern umgeht, und ob nicht die zunehmende Fremdenfeindlichkeit nur eine Vorstufe der Vertreibung ist.

Peter Glotz: „Die Vertreibung. Böhmen als Lehrstück“, Ullstein Verlag, München 2003, 300 Seiten, 22 Euro