„Sie machen ja alles falsch!“

Nur noch ein paar Tage, dann gehört 2003 der Vergangenheit an. Auf zu neuen Ufern! Mit neuen guten Vorsätzen. Zum Beispiel dem, uns in Zukunft viel besser um unsere Zähne zu kümmern. Am besten, wir machen gleich einen Termin bei der Zahnhygienikerin

von CORNELIA KURTH

Kaum ein Arztbesuch kann für einen normal gesunden mittelalten Menschen deprimierender sein als derjenige beim Zahnarzt beziehungsweise bei seiner angestellten „Zahnhygienikerin“. Wenn so eine energische Frau (die ihrerseits selbstredend über ein blendend weißes, regelmäßiges Gebiss verfügt) sich über einen beugt und sagt: „Karies haben Sie ja nicht, aber Ihre Parodonditis, oh, oh, oh …“, dann ahnt man, dass sich im eigenen Mund etwas tut, was man wahrscheinlich niemals mehr unter Kontrolle bekommen wird.

Habe ich nicht immer fleißig meine Zähne geputzt, mit einer Zahnbürste „extra hart“ sogar, morgens und abends, so schwer es oft auch fiel? Mit „Ajona“, aus der kleinen roten Tube – „linsengroße Portion genügt“. Ajona, weil auch meine Großmutter Ajona benutzte und nie über ihre Zähne geklagt hat. Wieso höre ich plötzlich, dass mir ein künstliches Gebiss droht, weil Bakterien so auf meinen Zähnen wüten, dass das Zahnfleisch nur noch mit verzweifelten Abwehrentzündungen reagiert? Zahnfleischtaschen hätten sich gebildet, das Zahnfleisch sei schon erschreckend weit zurückgegangen. „Sie machen anscheinend alles falsch! Haben Sie das denn gar nicht selbst bemerkt?“

Halb erschrocken, halb gekränkt, frage ich im selben Ton zurück: „Haben meine (zugegebenermaßen ständig wechselnden) Zahnärzte das nicht bemerkt?“ Immerhin bin ich inzwischen über vierzig Jahre alt und seit Teeniezeiten unter Zahnarztkontrolle! „Nie hat mir jemand so etwas Schreckliches gesagt!“ – „Wahrscheinlich waren Sie niemals vorher bei einer Zahnhygienikerin!“ Da hat sie Recht.

Jetzt, wo ich es zugegeben habe, wird die Fachfrau etwas sanfter. Sie lenkt meinen Blick auf ein Farbposter, das ich schon schaudernd angestarrt hatte, als ich, in einem normalen Zahnarztstuhl liegend, noch auf ihr Erscheinen wartete. Es zeigt ein menschliches Gebiss, das auf verwirrende Weise einem Pferdegebiss ähnelt, so groß und blank ragen die Zähne aus dem Zahnfleisch, das seltsam geschwollen ist und knallrot leuchtet. Einmal gegen einen dieser Zähne tippen, und der Zahn klickt weg, so sieht es aus.

„Ja, schauen Sie nur genau hin! Und dann sehen Sie mal in diesen Spiegel!“ Ich – so ein Pferdegebiss? Schnell gucke ich wieder weg. „Mund auf!“, sagt die Zahnhygienikerin, und schon streicht sie eine Paste über meine Zähne und hält mir erneut den Spiegel vor. „Kinder finden das immer lustig!“, meint sie und grinst. Überall ist alles lila in meinem Mund. „Zahnbelag! Das hätten Sie wohl nicht gedacht?“ Nein. Hätte ich nicht. Wieso, weshalb, warum?

Es ist ja so: Zahnbelag, auch Plaque genannt, bildet sich bei jeder Nahrungsaufnahme. Er entsteht, weil hungrige und ungeheuer vermehrungswütige Bakterien sich sofort auf jedes Nahrungsangebot stürzen, das sich ihnen bietet, je süßer, desto besser für sie. Die zuckersüchtigen Mundstreptokokken sind die ersten, die im Handumdrehen millionenfach die Zähne belagern und sich mit einem Klebefortsatz so festsetzen, dass sie einen guten Untergrund für andere Bakteriensorten bieten, die alle zusammen bei ihrem fleißigen Stoffwechsel Säuren ausscheiden, die sich in den Zahnschmelz fressen.

„Ja …, aber…“, stammle ich. „Diese Plaque, die putze ich doch immer weg. Gleich nach dem Essen.“ – „Fehler Nummer eins!“, triumphiert die Fachfrau. Mindestens eine halbe Stunde sollte man mit dem Zähneputzen warten, wenn man nicht die Säuren in den kurzfristig leichter löslichen Zahnschmelz hineinreiben und dadurch die Sache erst richtig schlimm machen will. Eine halbe Stunde etwa nämlich braucht der Speichel, um seine Gegenmaßnahmen in Gang zu setzen und mit seinen Mineralien – Kalzium zum Beispiel – den Zahnschmelz wieder zu härten. „Nicht putzen also, sondern – außer vor dem Schlafengehen – nur den Mund mit Wasser ausspülen“, so der zahnhygienische Tipp.

Wer jetzt allerdings meint, ganz aufs Putzen verzichten zu sollen, der sorgt dafür, dass sich Zahnstein bilden kann, ganz fatal. Zahnstein, das ist durch die Künste des Speichels gehärtete Plaque. Schon nach 48 Stunden sitzt sie so fest, dass keine Zahnbürste mehr dagegen ankommt. Bakterien lieben Plaque, weil ihre raue Oberfläche einen so viel besseren Halt bietet als der glatte Zahnschmelz. Beste Voraussetzungen für Karius und Baktus, sich ihre Wohnhöhlen zu bauen.

Mein Problem sei nicht, dass ich zu wenig putze, erfahre ich, sondern dass mein Speichel sehr gute Härtungseigenschaften besitze. „Sie haben wahrscheinlich so wild auf Ihren Zähnen herumgerieben, dass Sie die Plaque unters Zahnfleisch befördert haben, wo jetzt alles voll Zahnstein ist. Das führt zu Parodonditis. Ihr Immunsystem kämpft verzweifelt gegen die giftigen Stoffwechselprodukte der Bakterien an, vergeblich. Das Zahnfleisch zieht sich zurück. Und später kann sogar der Kieferknochen abgebaut werden. Folge?“ Ich zucke schüchtern mit den Schultern. „Na, die Zähne fallen aus!“

Plötzlich fällt mir ein, dass meine Großmutter mit ihrer Ajona-Zahnpasta ja doch ein Gebiss hatte. Lange Jahre konnte sie es vor allen verheimlichen, bis sie mal sehr krank und bettlägerig wurde. Da musste sie mit der für sie so schmerzlichen Wahrheit herausrücken und ihre Familie darum bitten, das Gebiss zu reinigen. Ich fand das gar nicht so schlimm – aber, recht besehen, nur deshalb nicht, weil es nicht mein Gebiss war, das ich mit Kukidenttabletten ins Glas legte.

Liebe Zahnhygienikerin, was soll ich tun? Ich soll ihr mal zeigen, wie ich meine Zähne putze. Dafür drückt sie mir eine frisch ausgepackte Zahnbürste in die Hand, eine der Sorte „weich“ übrigens, denn: „Der schädlichste Irrtum ist, dass harte Zahnbürsten auch am härtesten für die Zahngesundheit kämpfen!“ Im Gegenteil scheuert man sich mit ihnen nur das Zahnfleisch kaputt und fördert so die chronischen Entzündungen, vor allem, wenn man auch noch wie wild aufdrückt, in der Annahme, damit den Bakterien den Garaus zu machen. „Weich! Weich muss eine Zahnbürste sein!“

Sie kann kaum mit ansehen, wie ich, harmlos bemüht, meine Zahnputzbewegungen vorführe. „Kein Wunder, liebe Frau Kurth! Wer nur hat Ihnen das beigebracht?“ Ich hatte die Zahnbürste mit schnellen, kräftigen Bewegungen kreisförmig über die Zähne geführt – schrubb, schrubb, schrubb. „Sie hobeln sich ja Ihr ganzes Zahnfleisch weg!“ Sanft, mit ganz sanften Kreisbewegungen solle man putzen! Zweimal über jeden Zahn und dann nach unten wegstreichen.

„Benutzen Sie Zahnseide?“ – „Ja!“, kann ich eilfertig sagen. „Mindestens einmal in der Woche!“ Die Zahnhygienikerin verdreht die Augen. „Täglich müssen Sie das machen! Jeden Tag! Unbedingt!“ Weil Zähne nämlich nicht nur drei zu reinigende Seiten hätten, sondern fünf. Die Zahnzwischenräume, die sind am gefährlichsten. Dort sammeln sich Nahrungsreste, an die man mit der Bürste gar nicht herankommt. Selbst die Zahnseide erwischt oft nicht alles, vor allem dann nicht, wenn sich schon größere Lücken oder Taschen gebildet haben. Dann muss man mit kleinen Bürstchen ran, ziemlich teuren Dingern, die man in einen ziemlich teuren Halter einklemmt.

Sie holt so einen Halter heraus, sagt wieder: „Mund auf!“, und fuhrwerkt lässig zwischen meinen Zähnen herum. Peinlich, peinlich, denn plötzlich steigt mir ein unangenehmer Geruch in die Nase. „Uhh“, sage ich. „Was riecht denn da so?“ Sie lacht. „Machen Sie sich nichts draus, das bin ich gewöhnt“, und zeigt mir das Bürstchen, an dem undefinierbare Fasern hängen, die sie aus einem Zahnzwischenraum herausgeangelt hat.

„Besteht denn noch Hoffnung für mich?“, frage ich, schon ganz hoffnungslos. „Natürlich!“ Die Zahnhygienikerin holt ihr Polierwerkzeug hervor, verteilt eine Paste auf meinen Zähnen und beginnt ihr durchaus schmerzliches Handwerk. „Wir bringen jetzt mal Grund in die Sache“, meint sie aufmunternd und achtet nicht auf meine Ahhs und Auas, während sie tief unter das Zahnfleisch fährt, um den verdammten Zahnstein zu entfernen. „Auch Sie müssen unter das Zahnfleisch gehen, wenn Sie mit der Zahnseide arbeiten. Dann haben Sie noch eine Chance.“

Als ich wieder in den Spiegel gucke, leuchten meine Zähne weiß. Aber ich sehe oben am Zahnfleisch auch deutliche Lücken zwischen den Zähnen. „Tja, damit müssen Sie jetzt leben“ , meint die Zahnhygienikerin. Der Zahnstein ist entfernt, dafür liegen nun aber die Zahnhälse bloß, dort, wo das Zahnfleisch zurückgegangen ist. „Am besten, Sie benutzen von jetzt an eine Zahncreme für besonders sensible Zähne.“ Kann es denn wieder gut werden, wenn ich alles gut mache? „Hm, ja, also – es kann besser werden. Die chronische Parodonditis wird zurückgehen, wenn Sie meine Ratschläge befolgen.“

Nur das einmal zurückgegangene Zahnfleisch, das wächst nicht wieder. Und außerdem ist mein Lebenswandel auch nicht gerade zahnfleischfreundlich. Zigarettenrauch ist ein übles Reizmittel. Und auch die Angewohnheit, beim nächtlichen Schreiben noch einen Wein zu trinken, kleine Schlucke über ein paar Stunden verteilt, das ist fast so schlimm wie der Zuckertee für Kleinkinder, die dann nur noch Stummelchen im Mund haben – ganz abgesehen davon, dass es für Wein trinkende Nachtarbeiter ein Problem sein kann, die halbe Stunde Abstand zwischen der letzten Bakteriennahrungsaufnahme und dem Zähneputzen einzuhalten.

„Haben Sie Kinder?“, fragt die Zahnhygienikerin. Ich nicke. „Na sehen Sie! Dann war diese Lehrstunde doch doppelt nützlich.“ Was bei Hans nicht mehr perfekt wird, lässt sich bei Hänschen von Beginn an in den Griff bekommen? „Genau! Zeigen Sie Ihrem Kind Ihr Gebiss, dann benimmt es sich bestimmt freiwillig wie nach dem Lehrbuch.“ Wie tröstlich!

CORNELIA KURTH, geboren 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln