: Exekution des Programms
Schriften zu Zeitschriften: Die Zeitschrift „Lettre“ bleibt sich trotz Relaunch treu. In der neuen Ausgabe streiten Jean Baudrillard und Jacques Derrida über den Irakkrieg
Unter jener Art ambitionierter Zeitschriften, die sich programmatisch gegen den Zeitgeist mit seinen vordergründigen Begriffen von Aktualität und Leserfreundlichkeit sperren, gehört Lettre International gewiss zu den seltsamsten Erscheinungen. Mögen andere es riskieren, manchmal lange Texte zu drucken – Lettre druckt gaaaanz lange. Mögen andere manchmal von erstaunlichen Abseitigkeiten in entfernten Gegenden berichten – dann druckt Lettre vier, fünf solche Berichte furchtlos hintereinander. Das intellektuelle Prestige, das das Journal in den letzten 15 Jahren akkumulierte, ist erheblich. Doch auch die Anforderungen an die Leser sind nicht gering bemessen.
So hat auch Lettre nun seinen Relaunch, wie das in der Branche so heißt, hinter sich. Und doch geriet der mehr zur Annonce der eigenen Beharrlichkeit. Eine Spur handlicher im Format, eine Prise poppiger in der Aufmachung – genug der Kompromisse. Einige kleine Eingriffe haben das Ganze immerhin viel lesbarer gemacht.
Im Zentrum der neuen Ausgabe steht eine Debatte zwischen Jean Baudrillard und Jacques Derrida über Krieg, Terror und das Elementarereignis des 11. September. Geführt wurde das Gespräch im Februar, am Vorabend des Irakkrieges. Für Baudrillard ist der 11. September der Einbruch des Unerwarteten, das Ereignis schlechthin, der Irakfeldzug dagegen das genaue Gegenteil, ein Nichtereignis: Der Krieg findet nicht statt. Er ist vorgeplant und wird abgespult, und gerade das ist es, worum es in Wahrheit geht: um die Exekution des Programmierten. Dies ist das eigentliche Ziel – dass nichts mehr stattfindet, was die Ordnung stört.
Derrida, mehr geerdet, fällt es schwer zu sagen, dass der Krieg nicht stattfinde, wo er doch materielle Folgen hat, und für ein paar tausend Menschen sogar tödliche. Er räumt aber auch ein, dass da etwas nicht stattfinde, „soweit es um Krieg geht“.
So ist denn auch Ussama Bin Laden die starke Figur, der nicht habhaft zu werden ist und die darum „durch einen Pappkameraden“ ersetzt werden musste – durch Saddam Hussein. In ihm hat man sich gewissermaßen einen Gegner erfunden, dem man zu begegnen wusste. Gerade nun, nachdem man Saddam als verwahrlosten, alten Mann aus seinem Erdloch zog, erweist sich die Wahrheit dieses Gedankens.
Flankiert wird die Debatte durch kluge Essays und schöne Reportagen. Tomás Eloy Martínez berichtet über den Niedergang Argentiniens, das 1928 mehr Autos als Frankreich und mehr Telefonanschlüsse als Japan besaß. Ian Buruma stellt Beobachtungen über die Modernisierung Asiens an. Dazwischen wird der Leser auf Reisen geschickt: durch Indien, Kaschmir und die Kälte der chinesischen Provinz.
Die große Reportage ist gewissermaßen das Markenzeichen von Lettre geworden. Eine literarische Form, die heute eine Statusänderung durchmacht. Sie wird nunmehr weniger von der Neugier auf fremde Welten getragen, als eher durch eine Art rettendes Bewusstsein: in der einen Welt noch die paar verbliebenen Nischen an Differenz sichtbar zu machen. Da werden keine Kontinente mehr erobert, sondern letzte Refugien des Exotischen verteidigt.
Ein Wandel, der Lettre sicherlich zu schaffen macht. 1988 gegründet, war dieses europäisches Projekt noch von einer Emphase getragen, an die man sich 15 Jahre später kaum mehr erinnert. Mochten andere große Sprechblasen von „Mitteleuropa“ oder vom „gemeinsamen Haus Europa“ absetzen, so war Lettre der Versuch ihrer Realisierung gegen alle Widrigkeiten in der intellektuellen Wirklichkeit.
Mit Pizza Hut in Peking und Streit um Stimmengewichte mit Warschau ist die Zeit solchen Subversiven notwendig abgelaufen. Was bleibt, ist eine gute Zeitung, die den Vorsatz nicht aufgeben will, ihre Leser zu überfordern. Und die sich treu bleibt, auch wenn sie neuerdings ein bisschen größere Fotos druckt.
ROBERT MISIK
Lettre, Winter 2003, 9,80 €