: Kampf ums Wohlbefinden
Schriften zu Zeitschriften: Ist Wellness die Verblendung der Unfreien und die Sorge um sich längst neoliberal? Die Zeitschrift „Widerspruch“ widmet sich dem aktuellen Gesundheitsbewusstsein
VON JAN-HENDRIK WULF
Was soll man schon dagegen sagen, wenn so viele Menschen zum Jahreswechsel auf die Idee kommen, mal wieder etwas für ihren Körper tun zu müssen? Die von der Münchner Gesellschaft für dialektische Philosophie herausgegebene Zeitschrift Widerspruch widmet sich in ihrer neuen Ausgabe (42/2004) dem Thema Gesundheit. Doch aus philosophischer Sicht interessiert gar nicht so sehr die Frage, womit genau man seinen Leib im Leben abwirtschaftet, sondern welche Geisteshaltung eigentlich dahinter stehen könnte.
So geißelt der Münchner Publizist Pravu Mazumdar den um sich greifenden „Gesundheitsimperativ“, der Gesundheit zu einem „unhinterfragten, aber kaum noch definierbaren Zweck“ habe werden lassen. Seit den frühen Achtzigerjahren bedeute Gesundheit mehr als nur die „Abwesenheit von Krankheit“. Gesundheit verheißt Lebensglück. Das stehe im Zusammenhang mit der Entwicklung des „salutogenetischen“ Ansatzes in der Medizin, der Gesundheit und Krankheit als fließende Zustände betrachtet. Gesundheit ist seitdem ein labiles Geschehen zwischen Krankheitsfaktoren und den Bewältigungsstrategien des Einzelnen. Vor allem die Ökologiebewegung, die sich in der persönlichen Suche nach Gesundheit von „der Macht der kurativen Medizin und der Pharmaindustrie“ emanzipieren wollte, habe diesen Gedanken aufgegriffen. Doch das sei „in eine neue Abhängigkeit gegenüber dem boomenden Wellnessmarkt und ihren Fitnessangeboten umgekippt“.
Wer nicht mitmacht, sieht sich oft mitleids- oder vorwurfsvollen Blicken ausgesetzt. Ist es daher nur Ressentiment, wenn Mazumdar den bekanntermaßen nicht ganz gesunden Philosophen Friedrich Nietzsche zitiert? „Der freigewordene Mensch, um wie viel mehr der freigewordene Geist, tritt mit Füßen auf die verächtliche Art von Wohlbefinden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen.“ Die eintönige Wellness im Fitnessstudio als Verblendung der Unfreien?
Der Leipziger Sportwissenschaftler Volker Schürmann räumt ein, dass das zunehmende Gesundheitsbewusstsein Ausdruck von Resignation sein könne, einer Einsicht in die Unveränderlichkeit der sozialen Welt, „der gegenüber man in je eigenen Dingen wenigstens noch Gestaltungsspielraum habe“. Der stille Jubel auf der heimischen Waage, das Hineinzwängen in eine unerreichbar geglaubte Konfektionsgröße ersetzt die ausgeträumten Utopien. Nicht zuletzt der zeitweilig zum Dauerläufer mutierte Außenminister hat diese Schubumkehr seiner aggressiven Potenziale auf den eigenen Körper vorgelebt. Doch die steigende Bedeutung des eigenen Wohlbefindens hat für Schürmann auch ihr Gutes, weil das gesellschaftliche Klima abwechslungsreicher werde, „wenn jeder und jede Einzelne sich als eigenbedeutsam und unverwechselbar begreift“.
Dass die „Sorge um sich“ zum Bestandteil des „neoliberalen Umbauprojektes“ werden könne, befürchtet dagegen der Medizinhistoriker Paul Unschuld. Das im 18. Jahrhundert erwachte Staatsinteresse an der Volksgesundheit habe aus zwei Gründen einer heute propagierten Selbstverantwortung Platz gemacht. Zum einen, weil nach dem Ende des Kalten Krieges die Massenmobilisierung gesunder Männer für den Kriegsfall unwahrscheinlich geworden sei. Zum anderen, weil es in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit nicht mehr notwendig sei, alle Produktivkräfte für die Industrie verfügbar zu halten.
So hat der Sozialpsychologe Heiner Keupp guten Grund, den Bewältigungsoptimismus der Wellness-Ratgeber aufs Korn zu nehmen. Diese Schriften richteten ihr Augenmerk „auf die Sieger-Typen, die ihr Leben als ständige Herausforderung begreifen“. Hier werde „eine soziale Defensivphilosophie als Hoffnungsträger verkauft, obwohl sie über den mühseligen Lebenskampf hinaus keine Perspektive eröffnen kann“.
Was also tun? Als souveräne Verweigerungsform gegenüber den allgegenwärtigen Zwängen des Gesundheitsdiskurses empfiehlt Keupp die kreative Eigenwilligkeit einer „Patchwork-Identität“. Das bedeutet, „nicht über alles herrschen zu müssen“ und sich selbst gegenüber Ironie zu üben. Montaigne zufolge stirbt der Mensch nicht, weil er krank ist, sondern weil er lebt. So bleibt alles beim Alten: sich Weihnachten überfressen, zu Neujahr das Rauchen aufgeben, im Mai mit dem Abspecken beginnen, damit man sich im Sommer einen ordentlichen Sonnenbrand holen kann.
„Widerspruch“, Nr. 42, 6 €